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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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selbst der Verkehr, alles ist so vertraut. Sehen Sie«, rief sie, als das Auto die Xizang Lu kreuzte. »Da ist das Big World. Davon hatte ich mal eine Postkarte.«
    »Ja, ein bekanntes Unterhaltungszentrum. Man kann ganze Tage dort verbringen, sich verschiedene Lokalopern ansehen, Tanzvorführungen, Akrobatik, nicht zu vergessen die Karaoke-Bars und Spielhöllen. Und nebenan auf der Yunnan-Feinschmeckerstraße findet man eine riesige Auswahl an Restaurants und Imbißständen.«
    »Ich liebe chinesisches Essen.«
    Endlich erreichte das Taxi den Bund. Im Spiel der Neonlichter wirkten ihre Augen nicht mehr ganz so blau, er meinte, einen grünlichen Schimmer darin zu entdecken. Azur, dachte er. Und es war nicht allein die Farbe. Er fühlte sich an einen alten Ausspruch erinnert: Wo früher azurblaues Meer war, sind heute Maulbeerfelder, eine Anspielung auf die Unbeständigkeit und den Wandel der Welt. Es schwang darin ein melancholischer Beiklang mit – die Erfahrung des Unwiderruflichen.
    Zu ihrer Linken dehnten sich in Granit, Marmor und Zement die Gebäude der Uferstraße. Dann kam die legendäre Hongkong-Shanghai-Bank in den Blick. Sie wurde noch immer von den Bronzelöwen bewacht, die so viele Besitzer hatten kommen und gehen sehen. Daneben schlug die Uhr des neoklassizistischen Zollamts die Stunde.
    »Das Gebäude mit der Marmorfassade und dem pyramidenförmigen Turm an der Ecke Nanjing Lu ist das Hotel Peace, ursprünglich Hotel Cathay genannt, dessen Eigentümer ihre Millionen im Opiumgeschäft verdient haben. Nach 1949 hat die Stadtverwaltung den Namen geändert. Ungeachtet seines Alters ist es noch immer eines der besten Hotels in Shanghai …«
    Das Taxi hielt vor dem Hoteleingang, noch bevor er seinen Satz beenden konnte. Aber egal, sie hatte ihm ohnehin nur mit mildem Lächeln zugehört. Ein uniformierter Portier kam herbei und hielt der Amerikanerin die Tür auf. Der Angestellte in seiner roten Uniform und Kappe hielt Chen offenbar für ihren Dolmetscher und konzentrierte seine Aufmerksamkeit ganz auf sie. Chen registrierte das nicht ohne Ironie, während er beim Ausladen des Gepäcks half.
    In der Lobby vernahm er einzelne Takte Jazzmusik. Eine Band alter Männer spielte in der Bar am Ende der Hotelhalle. Sie spielten ihre alten Standards für ein nostalgisches Publikum und waren so bekannt, daß die Zeitungen sie als eine der Attraktionen des Bund priesen.
    Sie fragte nach dem Restaurant. Der Portier deutete auf eine Glastür, die von einem Korridor abging, und sagte, es sei bis drei Uhr nachts geöffnet. Aber selbst danach könne man in den umliegenden Bars noch etwas essen.
    »Wir könnten jetzt etwas essen gehen«, schlug Chen vor.
    »Nein danke. Ich habe gerade im Flugzeug etwas bekommen. Aber wahrscheinlich werde ich bis zwei oder drei heute nacht wach bleiben. Jet-Lag.«
    Sie nahmen den Aufzug in den siebten Stock. Ihr Zimmer hatte die Nummer 708. Als sie ihre Plastikkarte in das Schloß steckte, flutete Licht durch einen großen Raum, der mit intarsienverzierten Möbeln aus dunklem Holz eingerichtet war. Alles war im Stil des Art Deco gehalten; die Plakate von Schauspielern und Schauspielerinnen der zwanziger Jahre paßten zu dieser Ausstattung. Die einzig modernen Einrichtungsgegenstände waren ein Farbfernseher, ein kleiner Kühlschrank neben der Anrichte und eine Kaffeemaschine auf einem Ecktischchen.
    »Es ist neun Uhr«, sagte Chen mit einem Blick auf seine Uhr. »Nach dieser langen Reise müssen Sie müde sein, Inspektor Rohn.«
    »Nein, eigentlich nicht, aber ich würde mich gern ein wenig frischmachen.«
    »Ich werde in der Hotelhalle eine Zigarette rauchen und in zwanzig Minuten wieder hiersein.«
    »Aber nein, Sie müssen nicht weggehen. Nehmen Sie einfach einen Moment hier Platz«, sagte sie und deutete auf die Couch. Bevor sie mit ihrem Waschbeutel unter dem Arm ins Badezimmer verschwand, reichte sie ihm eine Zeitschrift. »Das war meine Flugzeuglektüre.«
    Es war eine Ausgabe von Entertainment Weekly mit mehreren amerikanischen Filmstars auf dem Titel, aber er schlug die Illustrierte nicht auf. Zunächst untersuchte er das Zimmer auf Abhörmikrophone. Dann trat er ans Fenster. Einst war er mit seinen Klassenkameraden den Bund entlanggegangen und hatte staunend zum Hotel Peace hinaufgeschaut. Daß er einmal aus einem dieser Fenster hinunterschauen würde, hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.
    Doch der Anblick des Bund-Parks holte ihn in die Gegenwart zurück.

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