Die Frau mit dem roten Herzen
Er hatte noch immer nichts in dem Mordfall unternommen. Weiter im Norden rumpelten in schneller Folge Busse und Oberleitungsbusse über die Brücke. Die umliegenden Bars und Restaurants machten mit blinkenden Neonschildern auf sich aufmerksam. Einige von ihnen würden die ganze Nacht geöffnet bleiben. Es war also, wie er anfangs gleich vermutet hatte, nahezu unmöglich, unbemerkt über die Mauer des Parks zu steigen.
Er wandte sich um und stellte die Kaffeemaschine an. Das Gespräch, das er nun mit der Amerikanerin zu führen hatte, würde schwierig werden. Doch zunächst mußte er im Präsidium anrufen. Dort versah Qian noch immer brav seinen Telefondienst. Vielleicht hatte er ihn ja unterschätzt.
»Wachtmeister Yu hat sich gemeldet. Er hat eine interessante Spur.«
»Erzählen Sie.«
»Eine von Wens Nachbarinnen hat ausgesagt, daß Wen kurz vor ihrem Verschwinden am fünften April einen Anruf von ihrem Mann erhalten hat.«
»Das ist allerdings interessant«, sagte Chen. »Wie hat die Nachbarin denn davon erfahren?«
»Wen hat kein eigenes Telefon. Das Gespräch fand im Haus der Nachbarin statt. Aber die Nachbarin weiß nichts über den Inhalt dieses Gesprächs.«
»Noch etwas?«
»Nein. Hauptwachtmeister Yu hat gesagt, er würde versuchen, wieder anzurufen.«
»Wenn er sich in nächster Zeit meldet, dann sagen Sie ihm bitte, daß er mich im Hotel Peace, Zimmer 708, erreichen kann.«
Jetzt hatte er immerhin etwas Konkretes, das er mit Inspektor Rohn diskutieren konnte, dachte Chen erleichtert. Er legte gerade den Hörer auf, als sie, das nasse Haar mit einem Handtuch trocknend, aus dem Bad kam.
Sie trug jetzt Jeans und eine weiße Baumwollbluse.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Nein danke. Heute abend besser nicht«, sagte sie. »Wissen Sie, wann Wen reisefertig sein wird?«
»Tja, es haben sich da Veränderungen ergeben. Ich fürchte, es sind keine guten Nachrichten.«
»Ist etwas passiert?«
»Wen Liping ist verschwunden.«
»Verschwunden! Aber wie war das möglich, Oberinspektor Chen?« Sie starrte ihn sekundenlang an, bevor sie in scharfem Ton fragte: »Getötet oder entführt?«
»Wir glauben nicht, daß sie getötet wurde. Das würde niemandem etwas nützen. Die Möglichkeit einer Entführung können wir nicht ausschließen. Die örtliche Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen, doch bislang liegen keine Ergebnisse vor, die diese Vermutung stützen. Wir wissen lediglich, daß Wen am Abend des fünften April einen Anruf von ihrem Mann erhalten hat und unmittelbar darauf verschwunden ist. Ihr Verschwinden könnte durch diesen Anruf ausgelöst worden sein.«
»Feng kann einmal pro Woche nach Hause telefonieren, darf aber nichts sagen, was das Gerichtsverfahren gefährden könnte. Jeder seiner Anrufe wird aufgezeichnet; ich hoffe, daß auch von diesem Gespräch ein Band existiert. Ihm liegt viel daran, daß seine Frau nachkommt. Warum sollte er etwas sagen, das sie zum Untertauchen veranlaßt?«
»Am besten Sie überprüfen alle seine Anrufe vom fünften April. Wir wären sehr interessiert daran, zu erfahren, was genau er gesagt hat.«
»Ich werde das nach Möglichkeit herausfinden, aber was werden Sie tun, Oberinspektor Chen?«
»Die Polizei in Fujian fahndet nach ihr. Alle Hotels und Buslinien wurden überprüft, aber bislang ohne Erfolg. Uns ist klar, daß wir sie bald finden müssen. Es wurde eine spezielle Ermittlungsgruppe gebildet, deren Leiter ich bin. Mein Partner, Hauptwachtmeister Yu, ist heute morgen in Fujian eingetroffen. Den Hinweis mit dem Telefongespräch hat er erst vor fünf Minuten erhalten. Er wird uns über die weiteren Entwicklungen auf dem laufenden halten.«
Catherine Rohns Erwiderung kam prompt. »Wen hat schon vor mehreren Monaten ihren Paßantrag gestellt, damit sie zu ihrem Mann reisen kann, und jetzt plötzlich verschwindet sie. Eine schwangere Frau kann zu Fuß nicht weit kommen, und Sie haben keine Hinweise, daß sie einen Bus genommen hat. Also muß sie noch in Fujian sein, falls sie nicht entführt wurde. Wenn Sie der Leiter dieser speziellen Ermittlungsgruppe sind, warum sitzen Sie dann hier mit mir in Shanghai?«
»Sobald wir weitere Informationen bekommen, werden wir entscheiden, was zu tun ist. In der Zwischenzeit werde ich hier Ermittlungen durchführen. Wen ist in Shanghai aufgewachsen und in die Schule gegangen, sie ist als gebildete Jugendliche vor zwanzig Jahren von hier aus nach Fujian geschickt worden. Vielleicht ist sie in die Stadt
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