Die Frau mit dem roten Tuch
steinzeitlichen Wohnstätte und saß lange vor der Höhle, ehe ich zum Wagen zurückging und nach Hause fuhr.
Es war, als hätten wir den Ort gestern erst verlassen. Ich kroch in die Höhle und fand unser Lager, wir hatten ja das ungegerbte Lammfell zurückgelassen. Du meintest, wenn jemand das Fell später, beim Zusammentreiben der Herde fände, würde der Bauer vielleicht Schadenersatz bekommen. Du wolltest immer für alles bezahlen, so warst du. Aber das Fell lag noch immer dort.
Ich will nicht behaupten, die Feuerstätte habe noch geraucht, aber die verbrannten Reste von Wacholderzweigen und Zwergbirken lagen noch genauso zwischen den Steinen, wie wir sie zurückgelassen hatten. Ich fand noch viele weitere Spuren unserer Anwesenheit, mehr oder weniger systematisch machte ich mich an ein Stück erotische Archäologie. Du hattest einen deiner grünen Handschuhe vergessen, dazu ein Fünfkronenstück und eine Haarspange aus Leichtmetall – war sie nicht eigentlich ein Verstoß gegen unsere Regeln, fragte ich mich. Ich kann mich freilich nicht erinnern, dass du sie benutzt hättest, vielleicht war sie dir auch nur aus der Tasche gefallen. Jedenfalls waren wir beide mehr und mehr zu Struwwelpetern geworden, denn Seife und Shampoo standen natürlich auf der schwarzen Liste. Statt Seife benutzten wir Birkenblätter, Flechten und Moos. Ich fand auch zwei von unseren selbst gemachten Angelhaken und schämte mich noch nachträglich, dass wir überall Fischgräten verstreut hatten. Aber wahrscheinlich sah es vor der berühmten Crô-Magnon-Höhle nicht anders aus. Ich glaube, so ungefähr hatten wir uns schon damals ausgedrückt. Wir dürfen ein bisschen nachlässig sein, sagten wir. Es sollte alles so authentisch wie möglich sein, das war uns wichtig. Wir waren Menschen, aber nur gerade eben. Wir hatten noch nicht lange den Übergang vom Tier zum Menschen geschafft, da durfte man nicht alles so eng sehen. Wir mussten sogar ein bisschen grob und unachtsam sein.
Und dann plötzlich – denn es geschieht abrupt – scheine ich mir zu entgleiten und mit der Landschaft zu verschmelzen, die mich umgibt. Dass es gerade hier und jetzt geschieht, kommt mir wie ein Zufall vor, denn es ist nichts, was ich aus einem bestimmten Grund oder mit Absicht täte. Es durchströmt mich nur das Bewusstsein, dass das, was ich sonst immer und überall in meinen Gedanken »ich« genannt habe, nur eine Illusion war.
Ich verliere mich selbst, und das erlebe ich nicht etwa als Verlust, sondern es kommt mir im Gegenteil wie eine Befreiung und Bereicherung vor. Denn ich erkenne zugleich, dass ich viel mehr bin als das erbärmliche Ego, um das ich mir bisher immer solche Sorgen gemacht habe. Ich bin nicht nur ich selbst, sondern auch die Hochebene, die mich umgibt, das ganze Land, ja, alles, was existiert, von der kleinsten Blattlaus bis zu den Galaxien am Himmel. So einfach lässt sich das sagen. Alles ist ich, denn ich bin es, der das alles ist .
Es ist ein kaum angemessen zu beschreibender Bewusstseinszustand, in dem ich mich befinde. Ich spüre und weiß, dass ich der Stein bin , auf dem ich sitze – und genauso der dort hinten und dieser und jener und alles Heidekraut, alle Krähenbeeren und alle Zwergbirken. Dann höre ich den unendlich melancholischen Lockruf des Goldregenpfeifers, aber auch der ist ich, ich rufe, und ich rufe meine eigene Aufmerksamkeit.
Ich lächle. Unter einer aufgewühlten Oberfläche aus Sinneseindrücken, aus Willen und Begehren, habe ich immer auch eine tiefere Identität gehabt, etwas Schweigendes und Stilles, das mit allem verwandt ist, was existiert, und jetzt, wo ich das erkenne, kommt auch die aufgewühlte Oberfläche zur Ruhe. Ich bin dem allergrößten Bluff der Welt zum Opfer gefallen, nämlich dass »ich« etwas sein könnte, das von allem anderen vollständig losgelöst ist. Dabei erlebe ich nichts Transzendentales, im Gegenteil, was ich erlebe, ist absolut und radikal diesseitig.
Ich habe ein starkes Gefühl von Zeitlosigkeit, obwohl ich nicht sagen kann, ich käme mir aus der Zeit herausgerissen vor. Eher könnte ich sagen, dass ich mich in die Zeit eingefügt fühle, nicht hier und jetzt hineingepresst, sondern behutsam eingefügt in alle Zeit. Denn ich lebe nicht nur mein eigenes Leben, ich bin nicht nur hier und jetzt, ich bin auch früher und später. Ich wachse und werde an allen Enden größer, und das werde ich immer tun, denn alles ist eins, und ein und alles ist ich.
Und schon geht es
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