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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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weiter, denn was ich beschreibe, ist ein flüchtiges Erlebnis. Ich habe einen glücklichen Hauch von Ewigkeit verspürt, von allem, was es vor und nach mir gibt, obwohl das eigentliche Erlebnis nur wenige Sekunden gedauert hat. Aber aus diesem Zustand nehme ich eine vollkommen neue Erkenntnis mit, eine Dimension, von der ich weiß, dass ich sie mein ganzes Leben lang mit mir tragen werde.
     
    So viel über das eigentliche Erlebnis oder den Bewusstseinszustand beim Besuch unserer Höhle. Ich habe versucht, eine tatsächliche Erfahrung zu schildern. Dennoch halte ich es bis zu einem gewissen Grad für möglich, dieselbe Erkenntnis durch reines Denken zu gewinnen.
    Wir sagen gern, dass wir auf der Welt sind, im Universum oder auf dem Erdball. Sicher sind wir das. Aber könnte es nicht ein verlockendes Spiel, um nicht zu sagen, eine Befreiung sein, die lästigen Präpositionen wegzulassen? Ich bin die Welt. Ich bin dieses Universum.
    Ich bin dort oben auf der Hochebene in einen kaum zu beschreibenden Bewusstseinszustand geraten. Aber was ich dabei erlebt habe, war wahr . Dass ich die Welt bin – es ist die reine Wahrheit.
     
    Oder was sagst du? Kannst auch du entlang der Achse, die ich gerade beschrieben habe, eine Hoffnung auf Versöhnung erkennen? Kannst du dich über den Gedanken freuen, dass noch in hundert, tausend oder einer Million Jahren Hasen, Schneehühner und Rentiere über die Hardangervidda streifen werden? Und kannst du zugleich erleben, dass du in gewisser Hinsicht die Vielfalt bist, die es nach dir geben wird? Kann auch ein solches Bewusstsein dir einen Funken Seelenruhe geben, vielleicht ebenso gut wie die ätherische Vorstellung, dass dein eigenes kleines »ich« sein irdisches Dasein als »Geist« im Paradies der Seelen überleben wird?
     
    Stell dir folgendes Dilemma vor: Vor dir auf dem Tisch gibt es zwei Knöpfe, die du drücken kannst. Wenn du den einen drückst, stirbst du auf der Stelle, und ein individuelles Dasein nach dem auf der Erde gibt es nicht – dafür dürfen die Menschheit und alles andere Leben auf dem Planeten bis in unüberschaubar ferne Zukunft weiterleben. Das heißt, es werden noch ungezählte Generationen kleiner Mädchen auf Inselchen und Schären herumspringen wie du am Ende der fünfziger Jahre. Ich kann sie regelrecht vor mir sehen. Doch dann gibt es auf dem Tisch vor dir noch den zweiten Knopf, und wenn du den drückst, wirst du bei bester Gesundheit leben, bis du weit über hundert bist – dafür aber, und das ist das Dilemma, wird die gesamte Menschheit und alles andere Leben auf der Erde mit dir zusammen sterben.
    Wie würdest du dich entscheiden?
    Ich glaube, ich würde, ohne zu zögern, die erste Möglichkeit vorziehen. Damit will ich mir nicht irgendeine Art von Frömmigkeit oder Opferbereitschaft attestieren. Ich weiß nur, ich bin nicht nur ich selbst und ich lebe nicht nur mein eigenes Leben. Wenn ich tiefer lote, bin ich zugleich die Menschheit, und die wird hoffentlich auch nach mir blühen und gedeihen. Das ist ein zutiefst egoistischer Wunsch, denn vieles von dem, was ich als ich denke, ist in etwas verankert, das außerhalb meines Körpers liegt. Hier sind wir in gewisser Weise einer Meinung – ich bin nicht nur mein Körper, nicht alles steht und fällt mit ihm.
     
    In der heutigen Zeit will man uns hartnäckig weismachen, unser eigenes Ego sei der eigentliche Mittelpunkt des Universums. Aber ist das nicht eine anstrengende Lebensweise? Ich meine, ein Leben mit der Aussicht, dass der eigentliche Mittelpunkt des Universums nur noch einige wenige Jahre oder Jahrzehnte existieren wird?
    Ich habe da oben auf der Hochebene eine seelische Befreiung erlebt. Ich fühlte mich erlöst aus einer egozentrischen Sklaverei. Es war, als würde ein eiserner Reifen um meine Brust gesprengt, der eiserne Reifen des Ich oder des Selbst.
     
    Doch ich habe noch mehr zu erzählen.
    Als ich gegen vier bei meinem Wagen zurück war, kam mir der Gedanke, noch ein wenig weiter nach Westen zu fahren, statt sofort nach Oslo zurückzukehren. Bald würde die Hardangervidda hinter mir liegen, also könnte ich auch durch Måbødalen fahren. Ich nahm in Kinsarvik die Fähre über den Fjord und fuhr weiter nach Norheimsund, über Kvamskogen und bis nach Arna. Erst dort fand ich, es sei an der Zeit umzukehren, denn jetzt wurde es Abend, und bis nach Hause in Kringsjå waren es über vierhundert Kilometer.
    Aber ich konnte nicht umkehren, wo ich dir schon so nah war, also fuhr ich noch

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