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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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Kommentar dazu abzugeben. Aber ich musste fortwährend daran denken. Wir hatten ein Leben genommen! Ich konnte mich nicht einmal dem Gedanken stellen, dass ich eines Tages selbst von der Oberfläche des Planeten und damit auch aus dem ganzen gewaltigen Universum verschwinden würde, von allem. Von dir, Steinn. Ja, auch von dir.
     
    Ich glaube, nach dem verstörten Morgen am Fähranleger sprachen wir nicht mehr oft von »der Frau, die wir angefahren haben«. Überhaupt kamen wir kaum noch direkt auf das zu sprechen, was passiert war. Das, sagten wir, wenn wir davon sprechen mussten, oder das, was passiert ist. Du warst dort oben schnell gefahren, es war leicht bergab gegangen, du hattest aus unserem kleinen VW herausgeholt, was herauszuholen war, und womöglich hatten wir beim Eldrevatn oben auf dem Hemsedalsfjell eine Frau angefahren und getötet. Wir konnten nur nicht darüber reden. Als wir dann wieder in Oslo waren, war dieser Teil der Geschichte schon eingekapselt und verdrängt. Wie sollten wir dann aber miteinander leben können? Zusammenzuleben bedeutet dochauch, miteinander zu sprechen, laut miteinander zu denken, zu scherzen und zu lachen. Und es bedeutet, miteinander zu schlafen und einander nahe zu sein.
    Über die Preiselbeerfrau hatten wir anfangs ganz offen gesprochen, und nur ihr ist es zu verdanken, dass ich heute, nach so vielen Jahren, fast ohne Hemmungen wieder aussprechen kann, dass wir auf dem Hemsedalsfjell wahrscheinlich einen Menschen angefahren und getötet haben. Auf die segensreiche Preiselbeerfrau werde ich noch zurückkommen, da kannst du sicher sein. Aber diesmal werde ich ausnahmsweise alles in streng chronologischer Reihenfolge erzählen.
     
    Und du? Bist du schon im Büro?
     
    Sicher. Ich hatte mich gerade eingeloggt, da kam auch schon die erste Mail. Sie stammte von dir, und inzwischen habe ich sie gelesen und gelöscht.
    Du erinnerst dich an viel mehr Details als ich. Ich frage mich nur, ob du nicht übertreibst, wenn du sagst, dass wir schon zu diesem frühen Zeitpunkt klar vor Augen hatten, dass die Frau, die wir angefahren hatten, nicht nur verletzt, sondern sogar getötet worden sein könnte. Sie konnte sich auch nur einen Arm gebrochen haben oder so gut wie unverletzt mit dem weißen Lieferwagen nach Hemsedal zurückgefahren sein. Auf jeden Fall aber war das, was passiert war, ungeheuer dramatisch. Und jetzt sitze ich hier in meinem Büro und habe alles noch einmal erlebt.
    Ich finde auch, dass du warten solltest, bis du die »Preiselbeerfrau« ins Gespräch bringst. Ich werde, was sie betrifft, ganz sicher eine entschieden andere Meinung vertreten als du. Aber das weißt du ja.
     
    Eine entschieden andere Meinung, meine Güte! Ich kann fast riechen, dass du dich in einem wissenschaftlichen Institut aufhältst. Wie sieht es da übrigens aus? In deinem Büro, meine ich …
     
    Ich sitze in einem typischen Hinterstübchen, einem Büro im Mathematischen Institut, auch Niels Henrik Abels Haus genannt. Auf den Regalen, auf dem Schreibtisch, sogar auf dem Fußboden stapeln sich Berichte, Kompendien und Zeitschriften. Nur fällt mir heute meine prosaische Umgebung kaum auf. Wenn ich lese, was du schreibst, habe ich das Gefühl, im selben Zimmer zu sitzen wie du und dich erzählen zu hören. Oder von mir aus im selben Auto. Also mach bitte weiter. Wir standen also an diesem Fähranleger im Süden des Sognefjords.
     
    Schon gegen vier wurde es hell, und kurz darauf ging die Sonne auf. Aber wir kniffen die Augen zu und flüsterten weiter. Wir erinnerten einander daran, wie sicher das Leben in der Steinzeit gewesen war, vor Jahrtausenden, aber auch erst ein Jahr zuvor auf der Hardangervidda. Auch diese letzte Steinzeit erschien uns unvorstellbar weit entfernt von dem, was wir in der eben zu Ende gehenden Nacht erlebt hatten. Wir träumten uns zurück in die langen Nächte, als wir unbeschwert vor unserer Höhle auf dem Rücken gelegen und in die Weltennacht hinausgespäht hatten. Wir glaubten, über unbeschreiblich große Entfernungen hinwegblicken zu können, quer durch das Wunder Welt. Es hatte am Ende fast wehgetan, den engen Kontakt zu all den Lichtjahre entfernten Nadelpunkten aufzugeben. Die exotischen Lichter, deren optische Nachbarn wir waren, waren viele Jahrtausende, bevor sie von unseren Sinnen aufgefangen wurden, durch denWeltraum gestürzt. Das Licht der fernen Himmelskörper war lange gereist, bevor es auf unsere Netzhaut traf – und von dort ging die Reise weiter in

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