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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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eine andere Dimension, ein anderes Abenteuer, quer durch die Schleier des Sinnesapparats bis hinab in die tiefste Geistestiefe. Dann kam eines Abends der Mond, erst als hauchdünne Sichel, doch mit jeder Nacht wurde sie größer, bis sie die Hardangervidda und das ganze Himmelsgewölbe ins Flutlicht ihres silberfarbenen Glanzes tauchte. Das Mondlicht erschien uns als Erleichterung, nicht nur weil wir uns nun auch nachts wieder in die Augen sehen konnten, sondern auch weil es den Augen und der Seele Ruhe verschaffte, wenn man nicht ganz so weit in den Weltraum hinausblicken konnte wie in den Nächten davor.
    Die ganze Zeit, während wir in dem roten Käfer lagen und uns in Erinnerungen an die Steinzeit, das Universum und unsere ferne Vergangenheit ergingen, hielten wir die Augen geschlossen. Es war Nacht, und wir hatten beschlossen, dass es so lange wie möglich Nacht bleiben sollte. Die Polizei oder die Fähre würde uns wecken, je nachdem wer zuerst eintraf. Als wir in der Ferne die Fähre über den Fjord tuckern hörten, wussten wir, dass es bald so weit sein würde, wir mussten uns nur erst noch an den gewaltigen Schwarm aus Sternschnuppen an dem Abend erinnern, als wir das Lamm schlachteten. Wir hatten die Hände vor den Mund geschlagen, so umwerfend war der Anblick gewesen. Innerhalb von zwei Minuten hatten wir dreiunddreißig Sternschnuppen gezählt. Wir waren zu erschüttert, als dass wir uns die neunundneunzig Wünsche hätten überlegen können, die jetzt in Erfüllung gehen würden. Aber wir waren auch wunderbar satt. Wir hatten gebratenes Lamm gegessen und für die folgenden Tage noch genug davon übrig. Wünsche? Wir hatten doch einander.
     
    Wir setzten über den Fjord. Die Fährleute musterten die Front des Wagens, als missbilligten sie, was sie sahen, dann schauten sie uns beide beinahe mitleidig an. Mit Kollisionsschäden am Auto ist es wie mit Wunden: Man sieht, wenn sie ganz frisch sind. Zeugen, dachten wir. Ich glaube, wir haben darüber auch geredet. Im Flüsterton. Schon damals brachte der norwegische Rundfunk nachts jede Stunde Kurznachrichten, das wussten wir. Wir wussten nur nicht, was sie oben im Steuerhaus der Fähre hörten.
    Aber wir wurden ohne Umstände in Kaupanger an Land gewinkt und fuhren weiter in Richtung Hella. Von dort wollten wir die Fähre nach Fjærland nehmen, dem Ausgangspunkt unserer Tour auf den Gletscher. Es war lange, bevor es das Internet gab, aber wir hatten einen Reiseführer gekauft und wussten, dass wir die erste Fähre nach Fjærland erreichen mussten, wenn wir in Hella nicht den halben Tag warten wollten. Und dann hatte das Spiel ein Ende: Zwischen Hermansverk und Leikanger wurden wir von der Polizei angehalten. Sie hatten uns eingeholt.
    Zwei Streifenwagen standen dort, einer davon mit Blaulicht. Ich dachte: Wie idiotisch zu glauben, wir könnten so leicht davonkommen! Die Front unseres Autos zeigte überdeutlich, was passiert war. Inzwischen war es taghell. Obwohl es damals noch keine Handys gab, musste die Polizei schon seit Stunden informiert sein. Und so sorgfältig du an unserem falschen Alibi gebastelt hattest, jetzt, wo man uns zur Seite winkte, hast du es dir plötzlich anders überlegt. Wir stellen uns, hast du laut und gebieterisch erklärt. Wir versuchen nicht, irgendetwas abzustreiten.
    Und ich habe genickt, konnte gar nicht aufhören zu nicken. Trotzdem hast du weitergeredet: Hörst du, wir sind in Panik geraten, das ist alles! Und ich habe genickt. Ich war so müde und traurig, Steinn. Ich war zerbrochen. Alles, was ichgeliebt und woran ich geglaubt hatte, war in den Staub getreten worden. Nach dem, was dort oben geschehen war, hatte ich keinen anderen Willen mehr als deinen.
    Aber es war nur eine technische Kontrolle. Wir mussten nicht einmal aussteigen, und das kam mir gelegen, denn ich weiß nicht, ob ich mich auf den Beinen hätte halten können. Es war am frühen Montagmorgen, und sie fragten nicht einmal, ob du etwas getrunken hättest. Aber wir bekamen einen Strafzettel. Wir mussten innerhalb von zehn Tagen die Scheinwerfer reparieren lassen, bis dahin wären wir ja in Oslo zurück, sagten sie, die Polizei, meine ich. Sie waren so nett und freundlich und vermerkten auf dem Strafzettel nur noch, dass wir nicht nachts fahren dürften, solange die Scheinwerfer nicht repariert wären. Das musste sein, obwohl wir schon diese hellen Sommernächte hatten.
    Wir durften nicht mehr nachts fahren, Steinn. Das war uns verboten. Aber darüber konnten wir

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