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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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uns nicht beschweren …
     
    Wir erreichten Hella einige Zeit, bevor die Fähre ging. Hella war wie Revsnes, ein Un-Ort, beim Fähranleger gab es nicht einmal einen offenen Kiosk. Ich hatte meinen unbezwinglichen Heißhunger auf Schokolade und litt Höllenqualen. In dieser halben Stunde, bis die Fähre von Vangsnes herüberkam, sprachen wir darum nur über das Problem mit unseren Skiern. Den Wagen mussten wir stehen lassen, da waren wir einer Meinung, es hatte keinen Sinn, ihn an einen Ort mitzunehmen, wo es kaum Wege gab. Außerdem mochten wir ihn nicht mehr gern vorzeigen. Aber die Skier?
    An all das erinnerst du dich sicher ebenso gut wie ich, aber einmal muss diese Geschichte zusammenhängend erzählt werden. Dort in Hella redeten wir vernünftig miteinander, wir kalkulierten.
    Sollten wir umkehren? Aber wie wir dort auf dem ausgrauen Steinen gebauten Anleger standen, glaubten wir es einander schuldig zu sein, den Jostedalsbreen zu erreichen. Es war doch unser Ziel gewesen, wir hatten es einander versprochen, und wie auch immer die Geschichte weiterging, wir brauchten einen Platz für die nächste Nacht, eine warme Decke, unter der wir uns aneinanderschmiegen konnten. Ob wir in einem, zwei oder drei Tagen festgenommen werden würden, konnten wir nicht wissen. Wir waren uns nur sicher, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bestenfalls von ein paar Tagen. Wir hatten gesehen, wie die Fährmannschaft den frischen Schaden an unserem Auto begutachtet hatte, wir waren in eine Polizeikontrolle geraten, und das Ergebnis der Kontrolle stand in einem Protokoll. Der Rest, auch da waren wir einer Ansicht, war nur eine Frage des Zusammenfügens von Informationen. Wir waren vernünftig in dieser halben Morgenstunde am Fähranleger und sahen ein, dass wir keine Skitour auf den Gletscher machen würden. So kaltblütig waren wir nicht, dass wir uns in der Situation auf eine Gletscherwanderung hätten begeben können. Wir mussten Zeitungen lesen und Radio hören. Wir mussten auf der Hut sein. Und wir wussten von einem alten, ganz aus Holz gebauten Hotel, in dem wir wohnen könnten. Also könnten wir auch unsere Skier in Hella zurücklassen. Oder nein, sie würden nach einem roten Käfer mit zwei Paar Skiern auf dem Dach fahnden. Ende Mai! Die Skier zurückzulassen wäre zu riskant. Und was sollten wir bei der Ankunft im Hotel erzählen? Das Logischste wäre sicher, sich als Gletscherwanderer auszugeben.
    Doch da war noch etwas außer dem nüchternen Kalkül, was die polizeilichen Ermittlungen anging, die Ahnung bei uns beiden nämlich, dass unabhängig davon, wie alles enden würde, unsere Beziehung jetzt schon Schaden genommen hatte. Von meinen Angstzuständen und deinem Hang, ein Glas oder zwei zu viel zu trinken, abgesehen, hatte es bis zudem Augenblick, als wir beim Eldrevatn die Frau mit dem roten Tuch anfuhren, kaum auch nur Reibungspunkte zwischen uns gegeben. Jetzt steckten wir zum ersten Mal einer Krise. Einer echten Krise. Aber wir konnten einander noch nicht loslassen. Morgen vielleicht, oder übermorgen, aber jetzt noch nicht.
    Wir brauchten einige letzte Stunden und Tage zusammen, bevor vielleicht alles zu Ende sein würde.
    So kamen wir noch zu einer beinah heiteren Bootsfahrt durch den schmalen Arm des Fjords. Wir fuhren geradewegs nach Norden auf den mächtigen Gletscher zu, und es muss die überwältigende Natur gewesen sein, die machte, dass etwas mit uns geschah. Es kam wie eine Erlösung, ein plötzlicher Dammbruch. Wir konnten wieder scherzen und lachen. Weißt du noch? Du bist regelrecht aufgegangen in deiner Rolle als unbekümmerter junger Mann. Wir waren gute Schauspieler. Wir hatten nicht geschlafen, das half sicher, aber wichtiger war, dass wir noch immer zusammen waren – jedenfalls noch für zwölf oder vierundzwanzig, vielleicht sogar achtundvierzig Stunden. Plötzlich waren wir Bonnie & Clyde. Wir waren daran gewöhnt, etwas Besonderes zu sein, auf einem Außenposten, wie wir gern sagten. Jetzt waren wir außerdem noch vogelfrei. Wir gingen in dieser Rolle auf, nach mehr als dreißig Jahren dürfen wir das getrost zugeben. Wir hatten begonnen, unsere Rollen als Zyniker zu spielen.
     
    Im Hotel sagten wir, wir wollten ein paar Tage bleiben – wir wüssten noch nicht genau, wie lange, in jedem Fall wollten wir auf den Gletscher, erklärten wir. Die Skier hatten sie ja gesehen, wir flunkerten ihnen dazu noch etwas von Gletscherkursen und Gletscherwanderungen vor.
    In Wahrheit wollten wir nur

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