Die Frau ohne Gesicht
Punkt zehn. Etwas später hörte sie ihn dann in der Badewanne furzen.
»Er weiß bestimmt nicht, dass das Geräusch durch die Wanne und den Fußboden dringt. Aber ich habe immer das Gefühl, dass alles in Ordnung ist, wenn Herr Vong abends um zehn im Bad einen fahren lässt.«
Mari lachte schallend, und Lia dachte: Bald weiß sie alles über mich.
»Ich liebe London. Seine Größe, seine Unzähmbarkeit und die Tatsache, dass ich einen großen Teil der Stadt kenne«, sagte Mari.
Sie schilderte ihr Leben knapper als Lia.
In Finnland hatte sie Psychologie studiert. Dafür hatte sie nicht lange gebraucht, denn sie hatte immer schon schnell gelernt.
»Ich hätte das Studium in weniger als zwei Jahren abschließen können, wenn die Praktika nicht gewesen wären.«
Auch Mari lebte allein. »Gelegentlich habe ich etwas mit einem Mann, aber mit deinem Tempo kann ich nicht mithalten.«
Mari erzählte, dass sie in verschiedenen Ländern gelebt und sich schließlich für London entschieden hatte, weil Großbritannien ihr die besten Chancen zu bieten schien. Nach ihrem finnischen Abschluss in Psychologie hatte sie an der London School of Economics Gesellschaftswissenschaften studiert und danach als Personalchefin bei der großen Versicherungsgesellschaft Mend Ltd. gearbeitet. Die Stelle hatte sie auf Empfehlung eines Headhunters bekommen.
»Vor drei Jahren habe ich dort aufgehört.«
Mari verstummte.
Lia warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Im Pub hatte Mari selbstsicher und irritierend anziehend gewirkt. Was war plötzlich los mit ihr?
»Es gibt etwas, das großen Einfluss auf mein Leben hat«, fuhr Mari schließlich zögernd fort.
Oje , dachte Lia. Sie ist eine verkappte Lesbe, die in Pubs Frauen abschleppt. Oder eine Zeugin Jehovas, die im Park Menschen bekehrt.
»Ich habe eine besondere Fähigkeit«, sagte Mari ernst. »Eine Art Begabung, den Menschen mehr anzusehen, als man normalerweise sieht. Das habe ich schon als Kind gemerkt … und deshalb führe ich ein ziemlich ungewöhnliches Leben.«
Lia starrte sie sprachlos an.
»Du weißt doch, dass man an anderen Menschen irgendwelche Kleinigkeiten bemerkt, oft unbewusst?«, fragte Mari.
Wenn jemand immer wieder zur Tür blicke oder nervös hin und her rutsche, könne man daraus schließen, dass er möglichst bald gehen wolle oder jemanden erwarte. Eine derartige Schlussfolgerung könne man als halb unterbewusste oder intuitive Beobachtung bezeichnen, erklärte sie.
»Bei mir ist diese Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen und zu analysieren, besonders stark entwickelt.« Am stärksten sei diese Fähigkeit beim Gesichtssinn. Wenn Mari jemanden ansehe, könne sie erkennen, was er denke und wie er sich verhalten werde.
»Du kannst Gedanken lesen?«, fragte Lia ungläubig.
»Nein. Nein. Wenn du jetzt an irgendeine Zahl denkst, kann ich nicht sagen, an welche. So läuft es nicht. Aber ich kann sagen, was du von mir denkst. Und ich weiß, was du an diesem Wochenende wahrscheinlich vorhast.«
»Meinen Kater auskurieren«, gab Lia zurück. »Um das zu erraten, braucht man keine speziellen Fähigkeiten.«
Mari lachte.
»Vielleicht erzähle ich dir einfach mal, wie das alles anfing.«
Als Mari acht Jahre alt war, hatten ihre Urgroßeltern in Vanajanlinna bei der Stadt Hämeenlinna ein großes Familientreffen veranstaltet.
In dem vornehmen alten Jagdschloss gab es schöne Säle und antike Möbel und im Kellergewölbe einen Billardraum mit einer Geheimtür, hinter der sich eine Bar verbarg. Das Anwesen hatte eine verwickelte Geschichte. Es war unter anderem eine Zeitlang im Besitz der Sowjetunion gewesen, zur Zeit der Familienfeier diente es der kommunistischen Partei als Studienzentrum.
»Unsere Urgroßeltern waren so grundanständige Arbeiter und treue Parteigenossen, dass der Leiter des Internats bereit war, ihnen einen Teil des Schlosses für die Feier zu vermieten. Das war das tollste linke Fest, das du dir vorstellen kannst.«
Es waren mehr als sechzig Verwandte gekommen, einige sogar aus den USA . Die meisten hatte Mari noch nie gesehen. Es waren vollkommen fremde, aber sehr freundliche Menschen, die sich alle äußerlich ähnelten. Zum Abschluss versammelte man sich vor dem Haus, um sich gemeinsam fotografieren zu lassen. Es dauerte lange, die über sechzig Menschen an ihren Platz zu dirigieren. Die Urgroßeltern und übrigen älteren Leute durften in der ersten Reihe sitzen, die anderen mussten stehen. Die Männer hatten dunkle Anzüge an, die sie
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