Die Frau ohne Gesicht
deswegen meine Freude nicht verderben.«
»Du bist manchmal so kalt, finde ich. Du sortierst die Dinge in verschiedene Schubladen und tust, als wären sie nicht miteinander verbunden, obwohl sie zusammenhängen.«
Mari dachte eine Weile darüber nach.
»Stimmt«, meinte sie, »manchmal muss das sein. Aber zum Glück habe ich noch andere Seiten.«
»Das Video ist hervorragend gemacht«, sagte Lia.
»Danke.«
Die Atmosphäre, der Sprechrhythmus und einzelne Ausdrücke waren aus Sarah Hawkins’ Video übernommen worden. Deshalb klang Elzas Bericht authentisch. Daiga V ī tolas Geschichte und Hinweise auf die traurigen Erlebnisse anderer, realer Personen waren geschickt eingeflochten. Es war nahezu unmöglich, nicht emotional auf die Frau zu reagieren, die im Video gezeigt wurde: Sie weckte Mitleid, Bewunderung, Rührung oder Sympathie. Das Video war meisterhaft aufgebaut.
»Arthur Fried kann sich nicht herausreden«, sagte Lia.
»So ist es.«
»Das Video ist eine Lüge.«
»So ist es.«
Sie schwiegen eine Weile. Beide fürchteten, etwas Unwiderrufliches zu sagen.
»Ich wollte mitmachen, als es um die Wahrheit ging«, sagte Lia. »Ich kann es ertragen, dass Regeln abgewandelt werden. Und dass äußere Umstände verändert werden. Ich komme damit klar, dass gepokert wird. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Lügen tolerieren kann.«
»Wir haben nur in einem Punkt gelogen«, antwortete Mari.
Die einzige Lüge war die Behauptung, Arthur Fried habe Daiga V ī tola geschlagen. Mari hatte Daigas Namen verwendet, weil Arthur Fried ihr beinahe entwischt wäre. Ihr Plan hatte vor dem Scheitern gestanden. Sie hatte einen starken Effekt gebraucht.
»Du hast Daigas Schicksal ausgenutzt, um die Leute zu schocken.«
»Ja, stimmt.«
»Das ist verletzend.«
»Wieso denn das?«, wehrte sich Mari. Ihren Freundinnen zufolge war Daiga V ī tola eine ungewöhnlich widerstandsfähige und mutige Frau gewesen. Sie war jahrelang zur Prostitution gezwungen worden. Sie hatte es ertragen, von den Freiern mies behandelt zu werden. Dann war sie erschossen und von einer Planierraupe überfahren worden. Wie konnte es eine solche Frau verletzen, dass mit ihrer Hilfe ein Mann an den Pranger gestellt wurde, der Frauen misshandelte?
»Elza wollte das Video unbedingt machen, und Daiga hätte es wahrscheinlich auch gewollt«, sagte Mari. »Und du hättest erst einmal hören sollen, was sie bei The Wall dazu gesagt haben.«
»Bilde dir nicht ein, du wüsstest, was andere wollen. Das stimmt nicht. Du weißt zum Beispiel keineswegs, was ich will.«
Mari sah sie lange an.
»Doch, ich weiß, was du willst«, sagte sie. »Du willst bei uns mitmachen, und du willst weg. Und im Moment willst du vor allem weg. Das ist … traurig.«
Lia spürte einen Klumpen im Hals.
»Es war eine große Lüge«, sagte sie.
»Ja«, antwortete Mari. »Und sie war es wert.«
Lia verließ Maris Zimmer. Sie ging über den Flur zu ihrem Arbeitszimmer, blieb aber an der Tür stehen. Auf dem Tisch lagen ihre Mappen und Unterlagen. Daiga V ī tola und Arthur Fried.
Sie wollte sie einsammeln und wegräumen, doch sie konnte den Blick nicht von dem großen orangen Kreis auf dem Fußboden abwenden. Sie wusste, dass der Kreis jede ihrer Bewegungen an den Zentralcomputer des Studios übermittelte. Und an Mari.
Lia knipste das Licht aus und verließ das Studio.
50.
Lia geht zur Arbeit. In der Redaktion herrscht eine gute Stimmung: Am siebten Januar wird Timothy Phelps zum offiziellen Chefredakteur gewählt, und alle haben endlich wieder das Gefühl, dass es der Zeitschrift gut geht.
Lia arbeitet jetzt entspannter. Sie weiß, dass sie keine Eile hat, und dass ihre wichtigste Tätigkeit, das Denken, nur dann zum Ziel führt, wenn sie sich Zeit lässt.
Sie geht in die Praxis der Psychiaterin. Da sie keine Panikattacken mehr gehabt hat, beschließen sie nach der vierten Sitzung gemeinsam, die Therapie zu beenden.
Lia rechnet damit, erneut zur Vernehmung vorgeladen zu werden.
Doch die Polizei lässt lange nichts von sich hören, bis eines Morgens Chief Inspector Gerrish anruft und sie fragt, ob die lettische Prostituierte Elza, die auf dem Video von The Wall spreche, diejenige sei, von der Lia ihre Informationen bekommen habe.
Lia überlegt und antwortet: »Ja.«
Gerrish fragt, ob sie wisse, wo Elza sich aufhält.
Lia hält einen kurzen Moment inne und antwortet dann: »Nein.«
Manchmal denkt sie an das Leben der Frauen in Lettland. Manchmal auch an die Fair
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