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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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betrachtet würden sie ein seltsames Gespann abgeben. Zwei allein lebende Ausländer in einem stillen Winkel der Millionenstadt. Aus völlig verschiedenen Kulturen, aber an diesen Nachmittagen war ihre Herkunft wie ausgelöscht. Ein älterer Herr und eine junge – na ja, halbwegs junge – Frau. Zwischen ihnen der regelmäßige, ruhige Strom der Karten.
    In der Woche nach ihrem Geburtstag ging es in der Redaktion hektisch zu. Außerdem verbrachte Lia immer noch viel Zeit damit, über die Tote in der Holborn Street nachzudenken. Aus den großen Medien war der Fall fast ganz verschwunden, aber innerhalb einer kleinen Internetgruppe wurde er noch intensiv erörtert: in den Chats der Hobby-Kriminalisten.
    Die Diskussion hatte begonnen, sobald die ersten Nachrichten dazu erschienen waren. Der Mordfall schien den merkwürdigsten Überlegungen Nahrung zu bieten. Ist die Frau ohne Gesicht das erste Opfer eines Ritualmörders? Ist Überrollen so schmerzhaft wie Verbrennen? Das Pseudonym »Hard truth« hatte die Theorie entwickelt, die Frau ohne Gesicht sei Teil der 9/11-Verschwörung.
    Obwohl Lia es kaum ertragen konnte, dass das Opfer mit diesem dummen Namen benannt wurde, überflog sie die Beiträge. Sie musste wissen, ob es irgendwelche neuen Informationen gab.
    Immer wieder berichteten die Medien in dieser Zeit über andere, neue Mordfälle. Doch sie weckten bei Lia nicht dasselbe Interesse.
    Erst am zehnten Mai tauchte der Fall Holborn Street wieder in den Nachrichten auf, als die Polizei drei neue Einzelheiten bekanntgab. Die Tote war zwar immer noch nicht identifiziert, aber man hatte festgestellt, dass sie wahrscheinlich lettischer Abstammung und etwa vierzig Jahre alt war. Außerdem gab es Hinweise darauf, dass man auf sie geschossen hatte, bevor die Planierraupe sie überrollte.
    Lia las den kurzen Bericht immer wieder. Die neuen Informationen waren demzufolge das Ergebnis eingehender gerichtsmedizinischer Untersuchungen und machten den Fall konkreter.
    Woran erkennt man die Nationalität einer Leiche? Warum erklären sie das nicht genauer?
    Die wenigen Neuigkeiten waren Lia wichtig. Wenn auf die Lettin geschossen worden war, bestand die Möglichkeit, dass sie tot oder wenigstens bewusstlos gewesen war, als sie überrollt wurde. Ein schwacher Trost, aber immerhin.
    Lettland – wie wenig wusste Lia darüber! Eigentlich nichts. Sie war einmal, vor Jahren, in der Hauptstadt Riga gewesen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte es sich zu einem beliebten Reiseziel entwickelt. Riga war schön. Lia hatte die prachtvolle alte Architektur bewundert und war mit dem Lift auf die Aussichtsplattform eines Kirchturms gefahren. In einer Imbissstube, die den witzigen Namen XL Pelmeni trug, hatte sie ausgezeichnete Pelmeni, russische Tortellini mit Hackfleischfüllung, gegessen.
    Später war Riga einer der Orte geworden, den die Briten auf der Suche nach billigen Vergnügungen überschwemmten. Die englischen Zeitungen berichteten über lautstarke Polterabend-Trips von Briten und über die Verärgerung der Einheimischen. Lia merkte, dass sie beschämend wenig über das Land wusste, dass so nah bei ihrer Heimat lag und große historische Umwälzungen erlebt hatte.
    Sie begann, jeden Abend stundenlang im Internet Informationen über Lettland zu suchen, zudem lieh sie sich in der Bibliothek zwei zeitgeschichtliche Darstellungen über die Veränderungen im Baltikum aus. Wahrscheinlich kannten nur die Letten selbst die Geschichte des kleinen Landes. Für alle anderen war sie viel zu verwickelt – das Land war im Lauf der Zeit von Schweden, Polen, Deutschen und schließlich von der Sowjetunion erobert worden, heute war es wieder eine unabhängige Demokratie.
    Lia las über die Wirtschaft, die noch immer von den Nachwehen des Sozialismus geprägt war, und über die wachsende Arbeitslosigkeit. In einem Blog stieß sie auf Angaben über die meistgelesenen Bücher in lettischen Bibliotheken. So war vor ein paar Jahren der beliebteste Roman » Daugavas vizbules sirds« , übersetzt Das Herz des Veilchens von Daugava von Lolita Puncule. Darin ging es offenbar um unglückliche Liebe, um Sowjet-Lettland und um den Krieg in Afghanistan. Bei den Sachbüchern stand ein Buch an der Spitze, das der Dichter Imants Ziedonis gemeinsam mit seinem Sohn Rimants verfasst hatte. Es handelte von Bäumen, von den lettischen Wäldern.
    Die Namen sagten Lia nichts, doch das spielte keine Rolle. Was für ein faszinierendes Land, dessen Einwohner

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