Die Frau ohne Gesicht
U-Bahn-Netz auswendig lernte.
Ein paar Wochen später hatte Lia sich auch die Unterkunft im King’s College nicht mehr leisten können. Herr Chanthavong hatte sie nachdenklich angesehen. Während des Semesters sei das Wohnheim ohnehin Studenten vorbehalten, aber es gäbe eine Möglichkeit, sagte er. Er hatte eine Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss. Direkt darunter lag eine kleine Souterrainwohnung, eigentlich nur ein Zimmer mit Kochnische und WC . Zuletzt hatte dort ein bosnisches Ehepaar gewohnt; die beiden waren als Touristen eingereist, hatten dann aber Asyl beantragt.
»Wenn Sie Interesse haben, könnte ich Ihnen das Zimmer vermieten. Zunächst vielleicht für zwei Monate, sodass sie in dem reichhaltigen Angebot in London nach einer angemesseneren Unterkunft suchen können«, hatte Herr Chanthavong gesagt.
Im Zimmer hatten nur Bett, Schreibtisch und Stuhl gestanden. In der Kochnische gab es einen Herd, einen kleinen Kühlschrank und eine schmale Arbeitsfläche. Die Dusche befand sich in der Toilette, die so klein war, dass man beim Waschen an die Kloschüssel stieß. Aber Herr Chanthavong hatte nur vierhundert Pfund verlangt. Inzwischen wohnte Lia schon fast sechs Jahre dort. Die Miete war gestiegen, aber nur auf fünfhundert Pfund.
»Für die Wohngegend ausgesprochen billig«, erklärte sie Mari.
Aus Herrn Chanthavong war Herr Vong geworden. Zuerst nur in Lias Gedanken – Chanthavong klang so formell –, doch als sie ihn einmal aus Versehen mit der Kurzform angesprochen hatte, hatte er gelacht und sich offensichtlich über den Spitznamen gefreut. So war es dabei geblieben.
Lia war sich nicht sicher, ob irgendwer vom College von dem Arrangement wusste. Sie hatte nie nach einem Mietvertrag gefragt und zahlte ihre Miete bar. Ihre Wäsche konnte sie weiterhin in der Waschküche des Wohnheims waschen, und Herr Vong half ihr aus, wenn sie Werkzeug brauchte, um eine Steckdose oder den alten Fensterrahmen zu reparieren.
»Ich lebe wie eine ewige Studentin.«
Das hatte ihr lange Spaß gemacht. Wenn sie im Treppenhaus junge Studenten und Studentinnen sah, hatte sie das Gefühl, ihnen zu gleichen, noch in der Phase zu leben, bevor man etwas wird. Nachdem sie eine feste Stelle gefunden hatte, spürte sie eine andere Art von Zufriedenheit: Sie hatte den ersten Schritt ins richtige Leben gemacht und die Paria-Kaste hinter sich gelassen.
Die Wohnung war klein und pflegeleicht. Durch das Souterrainfenster sah man ein Stück der Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Kirche und des benachbarten Parks. Sie liebte die Statuen in diesem Park, die eine eigentümliche Geschichte hatten: Sie alle waren von ihren Auftraggebern zurückgewiesen worden.
»Der Park der verstoßenen Statuen. Oder eigentlich der geretteten Statuen.«
Die ersten Skulpturen hatte der Pastor der Kirche St. Luke in den 20er-Jahren gerettet. Er hatte gehört, dass man in Nordlondon eine Statue des Schutzheiligen der Kirche verschrotten wollte, war hingeeilt und hatte sie gekauft. Nach Ansicht der Auftraggeber sah das Gesicht des heiligen Lukas nicht tugendhaft genug aus. Als Nächstes hatte der Pastor eine große Florence Nightingale gerettet. Sie war von einem geistlichen Frauenverein zurückgewiesen worden, weil der Körper zu »sinnlich« sei. Da Nightingale einmal in Hampstead gewohnt hatte, hielt man die Rettung der Skulptur in jeder Hinsicht für angebracht.
Im Lauf der Jahrzehnte hatten Vereine und Privatpersonen aus dem Stadtteil die Sammlung vergrößert. Besonders gut gefiel Lia ein langohriger Hund, der der Überlieferung nach für ein Pfund gekauft worden war. Niemand wusste, weshalb diese Statue verworfen worden war. Lia hatte ihr den Namen »Pfund« gegeben.
»Es klingt wahrscheinlich verrückt, aber manchmal rede ich mit den Figuren.«
Wenn Lia eine wichtige Entscheidung fassen musste, erzählte sie dem heiligen Lukas oder dem Hund davon. Schnell fügte sie hinzu, sie sei aber nicht religiös. »Aber wenn ich jemandem von einer Entscheidung erzähle, und sei es nur eine Figur aus Stein, fühle ich mich daran gebunden.«
Manchmal sah Lia die Nonnen, die an einer nahe gelegenen Schule unterrichteten, in die Kirche gehen.
»Sie sehen so friedvoll aus. Im Film sind Nonnen immer streng oder irgendwie eindimensional dargestellt. Tugendhafte Idiotinnen. Aber diese Frauen sehen aus, als hätten sie gefunden, wonach sie suchen. Das Pullovergefühl.«
Abends hörte Lia, wie Herr Vong über ihr das Badewasser einlaufen ließ. Jeden Abend,
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