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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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sonst nur zu Hochzeiten und Beerdigungen anlegten. Die Frauen trugen ihre besten Kleider und waren frisch frisiert. Die Mütter feuchteten ihr Taschentuch mit Spucke an und versuchten, Flecken von den Kleidern ihrer Kinder zu reiben.
    »Da begriff ich plötzlich, dass etwas Merkwürdiges vorging.«
    Mari hatte, etwas abseits stehend, die Leute betrachtet und bei vielen auf einmal gewusst, woran sie dachten.
    Sie wusste, dass ihr Vetter an diesem Tag von einem Verwandten aus Amerika eine neue, besondere Droge bekommen hatte. Sie wusste, dass Onkel Perttu kürzlich seine Frau betrogen hatte und es wieder tun wollte.
    »Ich wusste auch, dass meine ältere Schwester Marja gerade beschlossen hatte, Lehrerin zu werden. Und dass sie ein Verwandter, den sie beim Fest kennengelernt hatte, auf diese Idee gebracht hatte.«
    Über nichts davon war gesprochen worden, und dennoch hatte Mari es gewusst.
    »Ist dir klar, wie … verrückt das klingt?«, fragte Lia.
    »Ja, ich weiß.«
    Einen Monat später war per Post das Gruppenbild von der Familienfeier gekommen.
    »Als ich das Foto betrachtete, sah ich noch mehr. Ich wurde sehr traurig über all das, was ich diesen Menschen ansehen konnte.«
    Bald darauf hatten sich Onkel Perttu und Tante Minna getrennt, die Tante hatte als Grund Ehebruch genannt. Maris Schwester wurde tatsächlich Lehrerin und arbeitete jetzt an einer Grundschule in Porvoo.
    »Es leuchtet mir ein, dass auch ein kleines Kind schon jemandem ansehen kann, dass er Drogen nimmt. Oder, dass diese Person sich schuldig fühlt. Vielleicht kannst du einfach besonders gut raten. So wie du heute Abend einiges über mich erraten hast.«
    »Nein, Lia. So ist es nicht.«
    Der Ernst in Maris Stimme ließ das Unglaubliche irgendwie wirklich erscheinen.
    Wenn diese Frau verrückt ist, dann ist sie eine ausgesprochen intelligente Verrückte.
    »Bis zu diesem Tag hatte ich geglaubt, alle würden so viel über ihre Mitmenschen spüren.« Erst bei der Familienfeier war Mari die Stärke ihrer Fähigkeit bewusst geworden. Obwohl sie als Achtjährige noch nichts vom Leben wusste, durchschaute sie alle.
    Lia schüttelte den Kopf. In ihrem Innern keimte Misstrauen.
    »Das hatte großen Einfluss auf mein Leben«, wiederholte Mari.
    Sie hatte als kleines Kind Dinge gesehen, von denen andere erst als Erwachsene erfuhren. Sie hatte begonnen, die Motive der Menschen zu erfassen und zu verstehen, warum Erwachsene mitunter Dinge tun, die ihnen schaden. Gleichzeitig hatte sie eine extrem schnelle Auffassungsgabe entwickelt.
    »Vorhin habe ich gesagt, ich hätte das Studium schnell hinter mich gebracht – in Wahrheit habe ich für die Vorbereitung auf die Abschlussklausuren nur zwei Monate gebraucht. Nur um nicht aufzufallen, habe ich die Prüfungen nach und nach abgelegt.«
    »Warst du ein Wunderkind? So ein superintelligentes?«
    »Es geht nicht um Intelligenz. Aber diese Eigenschaft – ich nenne sie ›Menschen lesen‹ – hat mir Glück gebracht. Und auch ein wenig Unglück.«
    »Inwiefern?«
    Mari seufzte: »Das ist schwer zu erklären … Aber du verstehst sicher, warum ich bei der Versicherung gekündigt habe.«
    Sie war eine hervorragende Personalchefin gewesen. Vor allem verstand sie sich darauf, neue Mitarbeiter zu rekrutieren und ältere Kollegen zu beraten.
    »Ich sah sehr schnell, was in den Bewerbern steckte. Ob sie die Wahrheit sagten, ob sie ihrer Aufgabe gewachsen waren. Aber es war zu anstrengend.«
    Mari schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr: »Es ist belastend, die Probleme anderer Menschen zu kennen. Oder wenn man sieht, dass jemand drauf und dran ist, einen großen Fehler zu machen oder etwas Unrechtes zu tun, aber nicht eingreifen kann. Einmal zum Beispiel wollte ein Mann in eine andere Abteilung versetzt werden, um neue Erfahrungen zu sammeln, der wahre Grund war jedoch, dass er plante, firmeninterne Informationen an die Konkurrenz zu verkaufen.«
    »Das hast du gesehen?«, staunte Lia.
    »Und noch vieles mehr.«
    »Du wärst die beste Polizistin der Welt.«
    Mari lächelte.
    »Eine sehr müde Polizistin.«
    Lia stand auf. Ihre Beine waren eingeschlafen, außerdem war es inzwischen schon sehr spät.
    »Mag ja sein, dass du das Verhalten deiner Mitmenschen besser deuten kannst als andere, aber als Wissen würde ich das nicht bezeichnen.«
    »Na schön«, sagte Mari. »Soll ich dir erzählen, was du wirklich über mich denkst?«
    Lia überlegte.
    Das wird langsam unheimlich.
    »Schieß los.«
    Mari sprach schnell, ohne

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