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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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zusammengebunden. Exakte, gleichmäßige Schritte zeichneten die Strecke auf Parkwege oder Asphalt. In Gedanken sah sie von dort oben ein Muster. Es war klar und logisch.
    »Natürlich liegt das an meiner grafischen Ausbildung. Landkarten und räumliches Denken habe ich schon immer geliebt. Ich kann Richtungen abschätzen und verlaufe mich nie.«
    Mari meinte, das höre sich an, als ob Lia Ordnung liebte und die Dinge gerne im Zusammenhang sah.
    »Vielleicht zu sehr. Ein bisschen Unordnung könnte mir guttun«, sagte Lia.
    Mari lächelte, und Lia hatte das Gefühl, dass sie ihr fast alles erzählen könnte.
    Über ihre zweite Freizeitbeschäftigung hatte Lia bisher mit keinem gesprochen.
    »Aber du hast es mir ja gleich angesehen.«
    Sie hatte die Angewohnheit, ein oder zwei Mal im Monat mit einem Mann zu schlafen. »Fünfzig ist vielleicht ein bisschen zu niedrig geschätzt.«
    Sex löste dasselbe in ihr aus wie Joggen: körperliches Wohlgefühl und seelische Entspannung. Ein bewährtes Mittel, ließ man Scham- und Schuldgefühle oder romantische Träume außen vor. So blieb es beidseitiger Genuss.
    »Vielleicht fasziniert mich am Sex neben dem Genuss auch die Unordnung. Man kann sich nie ganz sicher sein, weder seiner selbst noch des Partners … und man handelt nicht vernünftig.«
    Dass dieses dunkle Spiel erst in London angefangen hatte, erzählte Lia nicht. Dass es einen Grund dafür gab. Es waren die Vorfälle in ihrer Heimat, die sie ins Ausland getrieben hatten. Nachdem sie ein Jahr lang einsam in London gelebt hatte, war ihr klar geworden, dass es so nicht weitergehen konnte.
    Die Männer mussten zwischen dreißig und vierzig sein und einen One-Night-Stand suchen, so wie sie. Keine liebeskranken jungen Burschen und keine Männer, die sich eine Ehefrau wünschten. Und auch keine durchgedrehten Typen, denn sie hatte keine Lust auf Probleme.
    »Kollegen sind tabu. Bei Level weiß keiner, dass ich in Bars gehe.«
    Sex gab Lia ein Gefühl der Stärke.
    Es gab mehrere Lias. An ihrem Arbeitsplatz war sie verschlossen und leistungsorientiert. Wenn sie abends ausging, war sie offen und stark. Sie war diejenige, die sagte, wo es langging. Auf Reisen verbrachte sie ihre Zeit mit Spazierengehen und Lesen, genoss das Alleinsein.
    »Alle diese Lias wirken sehr selbstständig«, sagte Mari.
    »Ja.«
    Und einsam.
    Sie schwiegen, tranken Kognak und sahen auf die Stadt hinab. So spät in der Nacht zerfiel London in zwei Bestandteile: dunkle, schlafende Viertel und zwischen ihnen helle Straßen, Kanäle des Lichts und des Lebens.
    »Zeitweise habe ich mich sehr allein gefühlt«, sagte Lia leise.
    Als sie fünfundzwanzig wurde, war sie zum zweiten Mal in die Provence gereist, damit ihre Kollegen nicht merkten, dass sie ihren Geburtstag nicht feierte. Ihre Einsamkeit war ihr wunder Punkt. Eine Familie und Kinder, daran erlaubte sie sich nicht zu denken.
    »Ich habe versucht, Anschluss zu finden.«
    Sie hatte an Kulturveranstaltungen teilgenommen, an Gottesdiensten, an Stadtteilführungen, sogar an einem Kurs für freiwillige Helfer des Vereins psychisch Kranker. In Hampstead hatte sie sich einen Stammpub gesucht, The Magdala. All das schien nicht zu helfen. Nur manchmal gab es kurze Momente, in denen sie sich nicht einsam fühlte – etwa bei der Arbeit, im Pub oder auch in einem Club, wenn alle tanzten und eine einzige, in Schweiß und Glück gebadete Masse bildeten.
    Ihre Wohnung war klein, doch sie lag ihr am Herzen.
    Als Lia nach London kam, hatte sie eine billige Unterkunft gesucht, die nicht allzu weit von den Sehenswürdigkeiten im Zentrum entfernt war. Sie hatte sie in Hampstead gefunden, im Wohnheim des altehrwürdigen King’s College, dessen Zimmer im Sommer an Fremde vermietet wurden. In der Waschküche des Wohnheims hatte Lia den Hausmeister kennengelernt, den etwa sechzigjährigen Herrn Chanthavong.
    »Er ist ein …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Ein asiatisch-britischer Gentleman. Doppelt distinguiert.«
    Herr Chanthavong war in Laos geboren, hatte aber unter anderem in Vietnam und China gelebt, bevor er nach England gezogen war. Er sprach ein elegantes Englisch, das sich anhörte, als stamme es aus einem alten Lehrbuch. In London selbst lebte er schon seit rund zwanzig Jahren. Sie hatten sich bei ihrem ersten Treffen darüber unterhalten, was die große Tierliebe der Briten über die Zivilisiertheit ihrer Nation aussagte, und darüber, dass man ein Gespür für die Stadt bekam, indem man das

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