Die Frau ohne Gesicht
Zögern.
»Du magst mich sehr, mehr als du je irgendwen bei der ersten Begegnung gemocht hast. Andererseits ist dir die Situation unheimlich. Ein großer Teil deines Ichs glaubt alles, was ich gesagt habe, aber du gibst es nicht zu. Der Gedanke, dass es so etwas geben könnte, ist dir fremd. Es wird dich ungefähr eine Viertelstunde kosten, deine Widerstand leistende Hälfte zu beschwichtigen, und dann ist es Zeit, nach Hause zu gehen. Du möchtest mich wiedersehen. Du bist sehr neugierig auf das, was ich dir noch nicht erzählt habe, und darauf, wie es mit uns weitergeht.«
»Aha«, sagte Lia. »Es wird allerdings wesentlich länger dauern als eine Viertelstunde, ehe ich dir glaube.«
»Gut so. Eine Finnin lässt sich nicht einfach überreden. Als du von dir erzählt hast, hast du die ganze Zeit die Wahrheit gesagt, ohne etwas zu beschönigen. Das findet man selten. Allerdings hast du das eine oder andere ausgelassen.«
Lia zuckte zusammen.
Was weiß sie? Doch wohl nicht, was damals geschehen ist?
»Außerdem hast du die Wahrheit abgewandelt, als du gesagt hast, du gehst nie mit einem Kollegen ins Bett«, fuhr Mari fort.
Lia starrte an Mari vorbei ins Leere.
»Woher weißt du das?«
»Ich nehme an, es hat nur eine Ausnahme gegeben? Wahrscheinlich mit dem Politikredakteur Timothy. Das war so kompliziert, dass du beschlossen hast, es nicht mehr zu tun.«
Zum Teufel, sie durchschaut mich wirklich!
»Ich muss gehen«, sagte Lia. »Es wird kalt.«
»Okay«, nickte Mari und stand auf.
Langsam stiegen sie den Hügel hinab. Sie schwiegen auf dem ganzen Weg, Lia hätte auch nicht gewusst, was sie sagen sollte.
Als sie die Trafalgar Street erreicht hatten, gingen sie auf die im Dunkeln leuchtenden Taxischilder zu.
»Ist es dir recht, wenn wir den heutigen Abend erst einmal verdauen und in ein paar Tagen weiterreden?«, fragte Mari und gab Lia ihre Visitenkarte. Darauf standen nur ihr Name, Mari Rautee, und eine Telefonnummer.
Kein Titel. Wie zum Beispiel »überaus intelligente Verrückte«.
»Du bist extra in den Pub gekommen, um mich anzusprechen«, stellte Lia fest.
»Stimmt.«
»Warum? Was willst du von mir?«
Mari sah Lia lange an, und zum ersten Mal in dieser langen Nacht wirkte sie müde.
»Ich möchte dich zur Freundin.«
5.
Mari beobachtet, wie Lia in ein Taxi steigt.
Sie wartet, bis der Wagen anfährt, langsam über die Trafalgar Street rollt und um die Ecke biegt. Dabei denkt sie an die Kidderpore Avenue, wo Lia wohnt. Sie ist dort gewesen. Hat von weitem beobachtet, wie Lia über die Straße ging, in dem kleinen Park saß, zu ihrer Jogging-Runde startete.
Lia ist genau so, wie Mari sie sich vorgestellt hat.
Mari dreht sich um und mustert den Fahrer des nächsten freien Taxis. Ein westindischer, älterer, von der Nachtschicht müder Mann. Er blickt nicht von der Zeitung auf, in der er träge blättert.
Obwohl Mari einiges getrunken hat, erledigt sie automatisch ihren Sicherheits-Check. Dann klopft sie an das Seitenfenster. Der Fahrer blickt auf. Mari steigt hinten ein, nennt ihr Ziel in Hoxton, und das Taxi setzt sich in Bewegung.
Der Fahrer macht keinen Versuch, ein Gespräch anzufangen. Mari mustert ihn noch einmal und kommt zu dem Schluss, dass sie sich über diesen Mann keine Gedanken zu machen braucht. Er ist harmlos.
Die Adresse, die sie genannt hat, ist drei Straßen von ihrer Wohnung entfernt. Sie lässt sich nie direkt vor die Haustür bringen. Das Taxi muss immer mindestens drei Straßen zuvor halten.
Am Ziel zahlt Mari, steigt aus und bleibt stehen, bis der Wagen in der Dunkelheit verschwindet. Sie mustert ihre Umgebung, wartet ein paar Minuten.
Alles wie immer, genau nach Plan: Nie direkt vor der Haustür aussteigen, immer überprüfen, dass ihr keine verdächtigen Gestalten folgen, und dann schnell von der Straße ins Haus.
Niemand dringt in ihre Wohnung oder in ihre Gedanken ein.
6.
Lia rief Mari am folgenden Tag nicht an, obwohl sie es gern getan hätte.
Sie kurierte ihren Kater aus, indem sie den Tag möglichst ruhig anging. Kein Joggen, nur ein langsamer Spaziergang. Am Sonntagnachmittag stieg sie eine Treppe höher und klingelte bei Herrn Vong. Sie setzte sich ihm gegenüber, immer auf denselben Platz. Der Tisch stand in der Mitte des kleinen Wohnzimmers. Sie sprachen nicht viel, lächelten sich aber zu.
Sie spielten beide auf die gleiche Weise: kühn, aber nicht tollkühn. Sie gingen nur die Risiken ein, die sie sich leisten konnten.
Lia wusste, von außen
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