Die Frau ohne Gesicht
Rule, eine Partei, die von der politischen Landkarte verschwunden ist.
Sie joggt jetzt fast jeden Abend. Sie weiß, welche Straßen in Hampstead rutschig sind, und es gefällt ihr, wie die Sohlen ihrer Winterlaufschuhe den Boden berühren. Der Kontakt ist anders als in den anderen Jahreszeiten. Sie fühlt sich geschmeidig wie eine Katze.
Sie fährt mit Bus, Zug und U-Bahn durch London. Es ist beinahe, als wäre sie in eine andere Stadt gezogen. Sie hat eine neue Seite an den Londonern entdeckt: Selbst im Gedränge bewahren sie die Ruhe, bleiben zumeist sogar höflich. Sie lebt in einer Metropole, in der man gelassen sein kann.
Sie geht abends nicht in Bars, um Männer aufzureißen. Dafür ist jetzt nicht der Moment. Vielleicht liegt diese Zeit, in der sie Beziehungen für eine Nacht gesucht hat, hinter ihr.
Sie geht nicht ins Studio. Sie sehnt sich nach Rico, Maggie, Berg und Paddy. Und sie sehnt sich unvorstellbar heftig nach Mari, aber unter dieses Gefühl mischt sich auch stetig nagender Zorn, weshalb sie beschlossen hat, dem Studio fernzubleiben.
Auch wenn ihr manchmal fehlt, was sie dort war.
Die Wochenenden sind leer. Es ist schwierig, die Leere zu füllen. Sie beschließt, es gar nicht erst zu versuchen. Häufig setzt sie sich in solchen Momenten in den Park, zu den Statuen.
Lia spricht mit ihren Lieblingsskulpturen: Sie beredet die Vergangenheit mit St. Lukas und spricht über die Zukunft mit Florence Nightingale. Sie bildet sich nicht ein, eine Antwort zu bekommen, sie gibt sich die Antworten selbst.
Und allmählich gewöhnt sie sich an das Leben ohne Studio.
Dann kommt der Abend, an dem sie erkennt, dass sie sich entscheiden muss. Sie hat sich lange davor gedrückt, aber sie kann die Entscheidung nicht endlos hinauszögern.
An diesem Abend sitzt sie neben Pfund, dem geduldig lauschenden Hundedenkmal. Die Statue schimmert. Tagsüber hat es geregnet, und die langsam gefrierende Feuchtigkeit verschafft dem Tier ein dünnes, funkelndes Fell.
Lia hat sich an das Leben der letzten Wochen gewöhnt, aber etwas fehlt. Sie muss eine Wahl treffen.
Erwartungsvoll sieht sie den Hund an. Sie hat sicher dutzendmal mit ihm gesprochen. Es wäre höchste Zeit, dass er auch einmal etwas sagt.
Pfund sagt nichts.
Lia steht im Park und betrachtet den schweigsamen Hund. Sie weiß mindestens eine Sache, die sie jetzt gerade möchte. Ein großes Bier.
Sie holt das Handy aus der Manteltasche und schickt eine SMS , die aus einem Wort besteht: Durstig.
Es dauert nur achtunddreißig Sekunden, bis Maris Antwort eintrifft, und in diesen achtunddreißig Sekunden denkt Lia, dass sie sich nicht sicher ist, was alles sie gerade gewählt hat. Aber ihre Wahl konnte nicht anders ausfallen.
Für ihre Hilfe danke ich
Nina Gimishanov,
Mikko Aarne, Catherine Coulthard und der Polizei von London City,
Virpi Kalakoski, Jarkko Moilanen, Petteri Peltola, Antti Sajantila und Jana Steinberga-Ranki (Rozentals-Gesellschaft).
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