Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
Der berühmte russische Physiologe Pawlow und seine Schule haben gezeigt, daß bei der Verdauung von Brot bedeutend mehr Ferment ausgeschieden wird als bei der Verdauung von Fleisch. Pawlow hat ferner gezeigt, daß die aus den Magendrüsen sich ergießenden Verdauungssäfte in quanitativer Beziehung aus zwei Größen bestehen: der Magensaft ergießt sich einesteils auf Reizung der Magenschleimhaut durch die betreffenden Nahrungsmittel und andererseits als "Appetitsaft" auf Reizung der Sinnesorgane durch die Nahrungsmittel. Die Menge des Appetitsaftes ist abhängig einmal von dem jeweiligen Zustand unserer Psyche, zum Beispiel Hunger, Kummer, Ärger, Freude usw., und dann von der Natur des betreffenden Nahrungsmittels. Aber die Bedeutung des Appetitsaftes für die Verdauung fällt bei den einzelnen Nahrungsmitteln verschieden schwer ins Gewicht. Manche Nahrungsmittel, wie zum Beispiel Brot, gekochtes Hühnereiweiß oder reine Stärke können, wie das Experiment unmittelbar gezeigt hat, überhaupt gar nicht verdaut werden, wenn ihre Verdauung nicht durch Appetitsaft eingeleitet wird: nur mit Appetit (oder mit anderen Nahrungsmitteln zugleich) genommen, können sie verdaut werden. Dagegen kann das Fleisch, wie Pawlow gezeigt hat, zum Teil schon ohne Appetitsaft verdaut werden, wenn auch mit Appetitsaft die Verdauung des Fleisches unvergleichlich (um fünfmal) schneller vor sich geht. " Wir müssen daher Umstände in Betracht ziehen, die geknüpft sind an die Psyche des Menschen. Hier ist die Brücke geschlagen zwischen den Tatsachen der Ernährungsphysiologie und sozialen Verhältnissen. Der moderne Städter, zumal die breite Masse der Arbeiterklasse, lebt in sozialen Verhältnissen, die jeden normalen Appetit in ihnen ertöten müssen. Die Arbeit in der dumpfen Fabrik, die beständige Sorge ums tägliche Brot, der Mangel an geistiger Muße und heiterem Gemüt, die totale körperliche Erschöpfung, das alles sind Momente, die den Appetit untergraben . In diesem psychischen Zustande sind wir nicht imstande, den Appetitsaft zu liefern, dessen es zur Inangriffnahme und Bewältigung der Verdauung von vegetabilischer Nahrung bedarf. Dagegen haben wir im Fleische ein Nahrungsmittel, das – wenn man sich so ausdrücken darf – selber für seine Verdauung sorgt: es wird nicht nur zu einem guten Teile auch ohne Appetit verdaut, sondern es ist zudem als Reiz- und Genußmittel auch ein mächtiger Erreger unseres Appetits. So begünstigt das Fleisch die Verdauung auch der gleichzeitig mit ihm genossenen Vegetabilien und sichert uns dadurch eine ergiebigere Ausnutzung der mit den letzteren aufgenommenen Stoffe. Darin scheint uns der große Vorteil der animalischen Nahrung für den modernen Menschen zu liegen."
Sonderegger trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: "Es gibt keine Rangordnung der Notwendigkeit der Nahrungsmittel, aber ein unwandelbares Gesetz für die Mischung ihrer Nahrungsstoffe." Richtig ist, daß allein von Fleischnahrung sich niemand zu ernähren vermag, wohl aber von Pflanzenkost, vorausgesetzt, daß er sie entsprechend wählen kann. Andererseits wird niemand sich mit einer bestimmten Pflanzenkost, und sei sie die nahrhafteste, begnügen. So sind Bohnen, Erbsen, Linsen, mit einem Worte die Leguminosen, die nährendsten aller Nahrungsstoffe. Aber ausschließlich sich von ihnen nähren zu müssen – was möglich sein soll – wäre eine Tortur. So führt Karl Marx im ersten Band des "Kapital" an, daß die chilenischen Bergwerksbesitzer ihre Arbeiter zwingen, jahraus jahrein Bohnen zu essen, weil ihnen diese ein großes Maß von Kraft geben und sie in den Stand setzen, Lasten zu tragen wie bei keiner anderen Nahrung. Aber die Arbeiter weisen die Bohnen trotz ihrer Nahrhaftigkeit zurück, doch man zwingt sie, sich mit ihnen zu begnügen. Auf keinen Fall hängt das Glück und Wohlsein der Menschen von einer bestimmten Kostart ab, wie die Fanatiker unter den Vegetarianern behaupten. Klima, soziale Verhältnisse, Gewohnheit und persönlicher Geschmack sind maßgebend .
In dem Maße, wie die Kultur sich hebt, tritt allerdings an Stelle fast ausschließlicher Fleischkost, wie sie bei Jagd- und Hirtenvölkern vorhanden ist, mehr die Pflanzenkost. Die Vielgestaltigkeit der Pflanzenkultur ist ein Zeichen höherer Kultur. Auch können auf einer gegebenen Ackerfläche viel mehr vegetabilische Nährstoffe gebaut werden, als auf derselben Fläche Fleisch durch Viehzucht erzeugt werden kann. Diese Entwicklung
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