Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
schändet nicht, auch wenn sie im Stiefelwichsen besteht, das hat schon mancher altadelige Offizier erfahren, der Schulden halber nach den Vereinigten Staaten durchbrannte und dort Hausknecht oder Stiefelputzer wurde. Herr Eugen Richter läßt sogar in einer seiner Broschüren an der Stiefelputzfrage den "sozialistischen Reichskanzler" stürzen und den "sozialistischen Zukunftsstaat" aus dem Leim gehen. Der "sozialistische Reichskanzler" weigert sich nämlich, die Stiefel sich selbst zu putzen und das ist sein Unglück. Die Gegner haben sich an dieser Schilderung weidlich ergötzt und damit nur Zeugnis abgelegt von der Bescheidenheit ihrer Ansprüche an eine Kritik des Sozialismus. Herr Eugen Richter mußte den Schmerz noch erleben, daß nicht nur einer seiner eigenen Parteigenossen in Nürnberg bald nach Herausgabe seiner Broschüre eine Stiefelwichsmaschine erfand, sondern daß auch 1893 auf der Chicagoer Weltausstellung eine elektrische Stiefelwichsmaschine ausgestellt war, die dieses Geschäft in der vollkommensten Weise besorgte. So ist der Haupteinwurf, den Richter und Treitschke gegen die sozialistische Gesellschaft erhoben, durch eine Erfindung, die sogar in der bürgerlichen Gesellschaft gemacht wurde, praktisch über den Haufen geworfen worden.
Die revolutionäre Umgestaltung, die alle Lebensbeziehungen der Menschen von Grund aus ändert und insbesondere auch die Stellung der Frau verändert, vollzieht sich also bereits vor unseren Augen. Es ist nur eine Frage der Zeit , daß die Gesellschaft diese Umgestaltung in größtem Maßstab in die Hand nimmt, und den Umwandlungsprozeß beschleunigt und verallgemeinert und damit alle ohne Ausnahme an seinen zahllosen vielgestaltigen Vorteilen teilnehmen läßt .
Achtundzwanzigstes Kapitel - Die Frau in der Zukunft
Dieses Kapitel kann sehr kurz sein. Es enthält nur die Konsequenzen, die aus dem bis jetzt Gesagten für die Stellung der Frau in der künftigen Gesellschaft sich ergeben, Konsequenzen, die nunmehr der Leser leicht selbst ziehen kann.
Die Frau der neuen Gesellschaft ist sozial und ökonomisch vollkommen unabhängig, sie ist keinem Schein von Herrschaft und Ausbeutung mehr unterworfen, sie steht dem Manne als Freie, Gleiche gegenüber und ist Herrin ihrer Geschicke. Ihre Erziehung ist der des Mannes gleich, mit Ausnahme der Abweichungen, welche die Verschiedenheit des Geschlechts und ihre geschlechtlichen Funktionen bedingen; unter naturgemäßen Lebensbedingungen lebend, kann sie ihre physischen und geistigen Kräfte und Fähigkeiten nach Bedürfnis entwickeln und betätigen; sie wählt für ihre Tätigkeit diejenigen Gebiete, die ihren Wünschen, Neigungen und Anlagen entsprechen und ist unter den gleichen Bedingungen wie der Mann tätig. Eben noch praktische Arbeiterin in irgendeinem Gewerbe ist sie in einem anderen Teil des Tages Erzieherin, Lehrerin, Pflegerin, übt sie in einem dritten Teil irgendeine Kunst aus oder pflegt eine Wissenschaft und versieht in einem vierter Teil irgendeine verwaltende Funktion. Sie treibt Studien, leistet Arbeiten, genießt Vergnügungen und Unterhaltungen mit ihresgleichen oder mit Männern, wie es ihr beliebt und wie sich ihr die Gelegenheit dazu bietet.
In der Liebeswahl ist sie gleich dem Manne frei und ungehindert. Sie freit oder läßt sich freien und schließt den Bund aus keiner anderen Rücksicht als auf ihre Neigung. Dieser Bund ist ein Privatvertrag ohne Dazwischentreten eines Funktionärs, wie die Ehe bis ins Mittelalter ein Privatvertrag war. Der Sozialismus schafft hier nichts Neues, er stellt auf höherer Kulturstufe und unter neuen gesellschaftlichen Formen nur wieder her, was, ehe das Privateigentum die Gesellschaft beherrschte, allgemein in Geltung war .
Der Mensch soll unter der Voraussetzung, daß die Befriedigung seiner Triebe keinem anderen Schaden oder Nachteil zufügt, über sich selbst befinden. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist ebenso jedes einzelnen persönliche Sache wie die Befriedigung jedes anderen Naturtriebs . Niemand hat darüber einem anderen Rechenschaft zu geben und kein Unberufener hat sich einzumischen. Wie ich esse, wie ich trinke, wie ich schlafe und mich kleide, ist meine persönliche Angelegenheit, ebenso mein Verkehr mit der Person eines anderen Geschlechts. Einsicht und Bildung, volle Unabhängigkeit der Person, alles Eigenschaften, die durch die Erziehung und die Verhältnisse in der künftigen Gesellschaft naturgemäße sind, werden jeden
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