Die Frau vom Leuchtturm - Roman
platziert.
Dann blitzte vor meinem inneren Auge ein Bild von Bobbys lächelndem Gesicht auf, und ich machte mich abrupt los.
»Tut mir leid. Das war meine Schuld …«, begann Dan.
Mit einer Handbewegung tat ich seine Entschuldigung ab. »Nein«, sagte ich ein wenig atemlos. »Es ist passiert, und es war wunderbar …«
»Aber?« Er ließ die Frage zwischen uns in der Luft stehen.
»Es ist einfach ein schlechter Zeitpunkt für mich«, erklärte ich ausweichend. »Es ist alles ziemlich kompliziert …«
»Dann lass es uns doch einfach eine Weile dabei belassen«, schlug er lächelnd vor. »Sagen wir einfach, es war ein sehr netter Kuss zwischen Freunden …«
»Nein«, verbesserte ich ihn, »der Kuss war großartig. Und ich hoffe, wir können das bald wiederholen.«
Dan grinste, dann ergriff er meine Hand und drückte sie fest. »Abgemacht«, sagte er.
»Tja«, fuhr ich fort und räusperte mich, um meine Fassung zurückzugewinnen. »Was ist denn nun mit meiner armen Ahne Aimee? Willst du mir jetzt den Rest erzählen oder nicht?«
Dan nahm erneut das Tagebuch zur Hand und blätterte eine Seite auf, die er zuvor markiert hatte. »Ich dachte, es wäre dir wichtig zu wissen, was in dem Jahr davor zwischen Aimee und Amos Carter vorgefallen ist«, sagte er. »Denn Folgendes ist der Eintrag, den Amos in der Nacht ihres Todes gemacht hat:
6. November 1910. Leichter Schnee, gefolgt von aufklarendem Himmel. Nach der Mitternachtswache zu Bett gegangen. Um zwei Uhr morgens vom Schrei einer Frau geweckt worden. Ging nach draußen und fand Miss Aimee Marks aus Freedman’s Cove im Hof liegen. Offensichtlich war sie vom Leuchtturm gestürzt. Untersuchte sie auf Lebenszeichen, doch jede Hilfe kam zu spät. Habe ihre Seele dem Allmächtigen anempfohlen und sie mit meinem Mantel bedeckt. In der Morgendämmerung aufs Festland gerudert, um den Wachtmeister zu holen.«
Dan schlug das Tagebuch zu und legte es zu den anderen auf den Couchtisch.
»Das ist alles?« Ich brachte nur ein heiseres Flüstern heraus.
»Alles, was er geschrieben hat«, bestätigte Dan. »Amos Carter hat weder Aimee noch den Vorfall je wieder erwähnt. Er war weiter Leuchtturmwächter bis 1913 … als er selbst vom Turm in den Tod gesprungen ist.«
»Meine Güte«, stöhnte ich.
»Der merkwürdige Zwischenfall hat mich neugierig gemacht, als ich vergangenes Jahr zum ersten Mal darauf gestoßen bin«, sagte er. »Als ich das nächste Mal aufs Rathaus gegangen bin, um zu recherchieren, habe ich mir Aimees Totenschein heraussuchen lassen. Ihr Sturz wurde als Unfall bezeichnet.«
»Unfall?«, schnaubte ich. »Was in aller Welt soll sie denn in einer Winternacht ganz allein auf Amos Carters Leuchtturm gesucht haben?«
Dan zuckte die Achseln. »Das Ganze bleibt ein Rätsel. In der Lokalzeitung stand ein kurzer Nachruf, in dem nur berichtet wurde, dass Aimee durch einen Sturz ums Leben gekommen sei, nichts weiter. Offenbar haben die Behörden der Stadt Amos seine Geschichte abgekauft. Vielleicht ließ der Umstand, dass ihr Ruf bereits ruiniert war, einen Selbstmord denkbar erscheinen. Oder …«
»Oder was?«, unterbrach ich ihn herausfordernd. Das Ganze regte mich schrecklich auf.
Dan hob ratlos die Hände. »Oder sie hat wirklich Selbstmord begangen. Vielleicht hat sie sich dazu den Leuchtturm ausgesucht, um sich an Amos für das zu rächen, was er ihr angetan hatte.«
»Ich will dir mal sagen, was ich glaube«, rief ich ungestüm aus. »Aimee Marks ist zum Leuchtturm hinausgegangen, um diesen Bastard zur Rede zu stellen, und er hat sie umgebracht.«
»Das ist ebenfalls möglich«, räumte Dan ein.
»Möglich?«, schrie ich, sprang auf und marschierte hin und her wie ein Tiger im Käfig. »Das ist die einzige Erklärung, die einen Sinn ergibt. Und danach hat diesen
Mistkerl Carter sein schlechtes Gewissen so gequält, dass er sich letztlich selbst umgebracht hat.«
»Warum ist das alles so wichtig für dich?«, fragte Dan leise.
Die Frage überrumpelte mich.
»Ist es denn nicht vollkommen offensichtlich, dass Amos Carter Aimee Marks ermordet hat?«, stieß ich hervor.
»Kann schon sein«, entgegnete Dan. »Aber selbst wenn, dann ist das alles hundert Jahre her, Sue. Jeder, der die beiden zu Lebzeiten gekannt hat, ist schon seit Jahrzehnten tot.«
Ich setzte mich und nahm einen Schluck von dem kalten Kaffee in meiner Tasse. »Natürlich«, murmelte ich, weil ich nicht zugeben wollte, dass ich vor weniger als vierundzwanzig Stunden Besuch von
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