Die Frau vom Leuchtturm - Roman
Aimee Marks’ Geist bekommen hatte.
»Du hast sie nicht zufällig kürzlich gesehen?«, erkundigte sich Dan beiläufig.
Mir fiel die Kinnlade herunter, und ich starrte ihn an.
»So etwas hatte ich mir gedacht«, meinte er.
16. Kapitel
Ich schwebte in der Whirlpool-Wanne zwischen den aufsteigenden Blasen und versuchte, alles, was an diesem Tag passiert war, zu sortieren. Es war sehr spät, und Dan war erst vor ein paar Minuten gegangen. Ich hatte ihm versprechen müssen, ihn anzurufen, wenn ich weiterreden wollte.
Ich fürchtete nur, dass ich schon zu viel erzählt hatte.
Nach meiner ersten schockierten Reaktion auf seine seltsame Frage nach Aimee Marks hatte Dan fast eine Stunde gebraucht, bis ich gestand, dass ich sie wirklich gesehen hatte. Aber schließlich hatte ich mich geschlagen gegeben und ihm die ganze Geschichte erzählt. Hastig hatte ich eingeschränkt, dass ich vielleicht nicht ganz objektiv sei, und ihm - ich fürchte sehr tränenreich - von Bobbys Tod und den ungewöhnlich lebhaften Träumen, die ich seither hatte, erzählt.
Dan hatte ruhig und aufmerksam zugehört und keine Kommentare abgegeben, bis ich fertig war.
»Tja«, schloss ich schließlich unglücklich schniefend, »man könnte wahrscheinlich behaupten, dass ich momentan psychisch ein wenig instabil bin und mir nur eingebildet habe, dass Aimee Marks’ Geist nachts in mein Zimmer kommt. Meine Therapeutin jedenfalls würde das mit Sicherheit behaupten.«
Seine Antwort war anders ausgefallen, als ich erwartet hatte.
»Deine Therapeutin«, hatte Dan gelassen erklärt, »scheint mir zu diesen selbstzufriedenen, unangenehmen Menschen zu gehören, die sich gern als abgebrühte Skeptiker bezeichnen und sich von allem, was man nicht ordentlich in Plastik abpacken kann, über alle Maßen bedroht fühlen.«
Trotz meiner Tränen hatte ich darüber ein wenig lachen können und war dankbar gewesen, dass er mich wenigstens nicht für vollkommen durchgedreht hielt. »Ja, das klingt nach Laura«, pflichtete ich bei. »Aber wie kannst du so sicher sein, dass sie Unrecht hat? Sag mir nicht, dass auch du Aimees Geist schon gesehen hast!«
Dan schüttelte den Kopf. Dann ließ er eine weitere Bombe platzen. »Leider nicht«, antwortete er. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass viele andere sie gesehen haben. Eine Erscheinung, auf die deine Beschreibung von Aimee Marks passt, ist schon oft auf der Straße zur Landspitze und oben im alten Leuchtturm gesehen worden. Sie war sogar«, fuhr er fort, »jahrelang eine Attraktion in der Gegend von Freedman’s Cove. Die meisten, die sie sahen, hatten keine Ahnung, wer sie war. Aber weil sie jung war und häufig beim Leuchtturm gesehen wurde, nannte man sie irgendwann die ›Tochter des Leuchtturmwärters‹.«
Jetzt war ich an der Reihe, skeptisch zu sein. »Dan, ich bin in diesem Haus praktisch aufgewachsen«, hielt ich dagegen. »Wenn hier jahrelang ein berühmtes Gespenst umhergegeistert haben soll, wie kommt es dann, dass ich nie davon gehört habe?«
An diesem Punkt zeigte er mir die anderen Tagebücher,
die er unbedingt hatte mitbringen wollen: die Aufzeichnungen von Leuchtturmwärtern, die ihr Amt nach Amos Carters Tod ausgeübt hatten.
Wie sich herausstellte, war die »Tochter des Leuchtturmwärters« während der 1920er und 30er Jahre oft gesehen und in den offiziellen Logbüchern des Leuchtturms beschrieben worden.
Sie tauchte sogar so regelmäßig auf, dass mehrere bekannte Seher und Medien extra aus New york und Philadelphia nach Freedman’s Cove gekommen waren, weil sie hofften, einen Blick auf sie zu erhaschen.
Dann, irgendwann Anfang der 1940er Jahre - etwa um die Zeit, als der Damm gebaut wurde -, hatten die Erscheinungen plötzlich aufgehört, und der Geist war in Vergessenheit geraten. Bis jetzt.
Ich überdachte das alles und zog den vorsichtigen Schluss, dass ich vielleicht doch nicht dabei war, den Verstand zu verlieren. Wenigstens nicht insoweit, dass ich Dinge sah, die gar nicht da waren.
Doch durch den bloßen Umstand, dass womöglich andere Menschen zu früheren Zeiten mein Gespenst ebenfalls gesehen hatten, war ich noch nicht ganz aus dem Schneider. Ich machte mir immer noch Sorgen, ich könnte nicht ganz im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte sein. Natürlich war ich das nicht! Ich hatte nicht nur zugelassen, dass Dan Freedman mich küsste, sondern ich hatte es sogar gewollt! Und ich hatte seinen Kuss nicht nur erwidert, sondern auch durch und durch genossen.
Sanft
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