Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Frau vom Leuchtturm - Roman

Titel: Die Frau vom Leuchtturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
kleinen, ordentlichen Handschrift eng mit blauer Tinte, die inzwischen verblasste, beschrieben war. »Aber Amos Carter scheint viel Zeit mit Tagebuchschreiben verbracht zu haben. Seine Aufzeichnungen sind eine richtige Klatschkolumne über das Leben in Freedman’s Cove um die Jahrhundertwende.« Er nahm das Buch wieder an sich und betrachtete es missbilligend. »Und außerdem ist Amos anscheinend so etwas wie ein Spanner und selbsternannter Moralapostel gewesen«, meinte Dan. »Mehrmals beschreibt er in seinen Aufzeichnungen,
wie er durch das große Messingteleskop oben im Turm die ganze Stadt beobachtet hat.«
    »Und deswegen wusstest du genau, dass man von dort mein Schlafzimmerfenster sehen kann«, warf ich betreten ein.
    Er nickte. »Amos Carter hat deine Vorfahrin Aimee Marks lange beobachtet und alles niedergeschrieben.«
    Ich holte tief Luft, als Dan mit dem Finger auf die Seite tippte.
    »Hier ist zum Beispiel ein Eintrag, den Amos im Juli 1909 gemacht hat, über ein Jahr vor dem Tod des Mädchens:
    Wetter zu warm für die Jahreszeit, See vollständig ruhig. Heute Abend wieder die junge Aimee an ihrem Turmfenster im großen Haus der Marks’ beobachtet. Wenn ich sehen kann, wie sie ihre nackten Brüste vor der ganzen Stadt zur Schau stellt, dann kann ich mir vorstellen, dass das auch für andere gilt. Es ist eine Schande für die Gemeinde. Das schamlose Mädchen hat volle zehn Minuten dagestanden und dreist in meine Richtung geschaut.
    Werde jetzt jeden Abend nach weiteren Vorfällen Ausschau halten und ihrem Vater einen anonymen Brief schicken, wenn ich am Samstag hinüberrudere, um Vorräte zu fassen.«
    »Verdammt!«, rief ich wütend aus. »Willst du behaupten, dass dieser lüsterne Bastard sie ohne ihr Wissen Nacht für Nacht ausspioniert hat?«
    »Alles natürlich nur für eine gute Sache, nämlich den Schutz der öffentlichen Moral«, bemerkte Dan sarkastisch.
    »Was für ein Schwachsinn«, gab ich zurück. »Es war
eine heiße Sommernacht, und das Mädchen hat sich an ihr Fenster gestellt, das im Übrigen nicht zur Stadt hinausgeht. Wahrscheinlich hat sie bloß einen kühlen Luftzug gesucht. Zweifellos war Amos Carter überhaupt der Einzige, der sie sehen konnte.«
    »He, ich hab das nicht geschrieben, sondern nur vorgelesen«, entgegnete Dan abwehrend. Er blätterte noch mehrere Seiten in Amos Carters enger Handschrift um. »Aber wenn dir das gefallen hat«, setzte er hinzu, »wirst du das hier lieben. Ein weiterer Eintrag, der auf den August desselben Jahres datiert ist:
    Das Marks-Mädchen heute in der Dämmerung am Südstrand mit einem Fremden beobachtet, einem Dandy aus New York, der behauptet, Künstler zu sein. Sehr viel unschickliche Berührungen, ehe die beiden sich hinter die Felsen zurückzogen, wo sie eine unanständige Zeitspanne blieben. Muss etwas unternehmen. Werde wieder an ihren Vater schreiben und vielleicht auch eine Nachricht an den Stadtrat und die Gemeindeältesten verfassen.«
    »Kein Wunder, dass die arme Aimee nach New york durchgebrannt ist«, meinte ich voller Mitleid mit dem lange verstorbenen Mädchen. Der scheinheilige Leuchtturmwärter hatte ihr grausam Unrecht getan.
    »Das Leben in Freedman’s Cove muss danach für sie zur Hölle geworden sein«, pflichtete Dan mir bei. »Amos hat sie heimlich auf Schritt und Tritt beobachtet und anonyme Schmähbriefe an ihre Familie und alle möglichen anderen Leute in der Stadt geschickt.« Er blätterte weiter zu mehreren anderen Tagebucheinträgen aus dem August 1909, die alle detailliert Aimees zunehmend
intime Treffen mit dem unbekannten Künstler am Strand schilderten.
    Dann, Mitte September, verschwand der Fremde plötzlich, und Amos Carter begann erneut, Aimees Schlafzimmerfenster zu beobachten. In einem letzten Eintrag, der auf Anfang November datiert war, schrieb er von einem »furchtbaren Streit« zwischen dem Mädchen und ihrem Vater, nach dem Aimee allein und weinend in ihrem Zimmer zurückgeblieben war.
    »Mein Gott«, flüsterte ich, nachdem Dan zu Ende gelesen hatte, »der miese Bastard hat ihren Ruf zerstört, und sie musste die Stadt verlassen.«
    »Irgendetwas ist jedenfalls passiert«, meinte Dan ebenfalls, »denn in Carters Tagebuch wird Aimee Marks erst Ende des folgenden Jahres wieder erwähnt, als man sie tot am Leuchtturm auffand.«
    Stirnrunzelnd sah er von dem Buch auf. »Du sagst, sie sei nach New york gegangen?«
    Rasch berichtete ich ihm von den paar vagen Bemerkungen, die Tante Ellen über Aimee und

Weitere Kostenlose Bücher