Die Frau vom Leuchtturm - Roman
den namenlosen New yorker Künstler gemacht hatte.
Nachdenklich hörte Dan zu. »Sie ist also nach New york durchgebrannt, um mit einem Maler zusammenzuleben«, staunte er. »Ich kann mir schon vorstellen, wie das eine durchschnittliche, sittenstrenge neuenglische Familie dieser Zeit schockiert haben dürfte. Was glaubst du, hatte dieser Maler wohl ein romantisches oder ein berufliches Interesse an ihr?«
Ich ging ans Bücherregal und zog das Gruppenfoto heraus, auf dem das Mädchen als Teenager zu sehen war. »Bilde dir selbst ein Urteil«, sagte ich. Dan schaute eine Weile auf das Bild.
»Sie war sehr schön«, meinte er schließlich. »Nicht nur hübsch auf eine konventionelle Art, sondern wirklich schön.« Seine grünen Augen verließen das Bild und sahen mich an. »Einen Moment lang war ich mir sicher, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben.« Er lächelte. »Und dann ist mir aufgegangen, warum sie mir vertraut vorkam. Du weißt wahrscheinlich, dass du ihr sehr ähnlich siehst«, setzte er leise hinzu.
Ich nahm ihm das Bild aus der Hand und sah es an. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass zwischen mir und dem Mädchen, das auf dem antiken Fahrrad saß, tatsächlich eine Ähnlichkeit bestand. »Nun ja, sechzehn werde ich nie wieder sein«, sagte ich und versuchte, einen Scherz daraus zu machen.
Dans Blick hatte sich von meinen Augen gelöst. »Du bist immer noch das hübscheste Mädchen von Freedman’s Cove«, sagte er, streckte die Hand aus und berührte meine Wange. »Ich weiß noch, wie ich mir gewünscht habe, du wärst ein oder zwei Jahre älter, damals, als wir Teenager waren …«
Seine Finger lösten ein elektrisches Prickeln auf meiner Haut aus, und erschrocken fuhr ich vor den unerwartet aufwallenden Empfindungen zurück, die ich nicht mehr gespürt hatte, seit Bobby …
»Wahrscheinlich hätte ich es damals sowieso nicht mit Debbie Carver aufnehmen können, mit der du immer auf die Insel hinausgefahren bist«, konterte ich in einem schlechten Versuch, meine tiefe Verlegenheit zu überspielen.
Die gemeinen Worte taten mir schon leid, als sie meine Lippen verlassen hatten, denn Dans Gesicht war mit einem Mal dunkel angelaufen.
»Es tut mir leid, Dan«, stotterte ich. »Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte er, nahm das Tagebuch und suchte nach einem weiteren Eintrag.
»Nein, ist es nicht«, stöhnte ich. »Du hast mir gerade ein wunderschönes Kompliment gemacht, und ich revanchiere mich, indem ich deine Gefühle verletze. Das war idiotisch.«
Behutsam legte Dan das Buch auf dem Couchtisch ab. »Sue, ich weiß doch, was die Menschen in dieser Stadt immer über Debbie und mich gedacht haben«, sagte er gleichmütig. »Und nach all dieser Zeit kommt es wirklich nicht mehr darauf an, ob es gestimmt hat.« Er verzog den Mund zu einem müden Lächeln. »Wir haben es beide überlebt.«
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Was ich gesagt habe, war absolut unverzeihlich«, beharrte ich und dachte an die lange zurückliegende Sommernacht, in der ich heimlich beobachtet hatte, wie er in seinem alten Mustang langsam nach Maidenstone Island hinausgefahren war, und mir gewünscht hatte, ich wäre bei ihm. »Genauso unverzeihlich wie das, was dieser eklige Amos Carter getan hat: mit seinem Teleskop alle auszuspionieren und seine bösartigen Gerüchte über Aimee Marks zu verbreiten. Ich habe absolut keine Ahnung, was für eine Art Beziehung ihr hattet, du und Debbie Carver«, endete ich lahm. »Und außerdem geht mich das auch überhaupt nichts an.«
»Debbie und ich waren beste Freunde«, sagte Dan leise, »zwei Außenseiter, die auf der falschen Seite des Bahndamms geboren waren und die sich aneinander klammerten, wenn es schwierig wurde. Meistens haben
wir darüber geredet, aus Freedman’s Cove wegzulaufen … Sie wollte Sängerin werden, weißt du.«
»Bitte, Dan«, flehte ich und fühlte mich noch schlechter als vorher. »Du brauchst mir doch nichts zu erklären …«
»Ich möchte es aber gern«, flüsterte er und nahm meine Hand. »Ich möchte einfach, dass du das alles verstehst, Sue.« Und dann berührten sich ohne Vorwarnung unsere Lippen, und wieder empfand ich diese elektrische Spannung. Ich spürte, wie sie bis in mein Herz drang, und ließ mich davontragen, obwohl ich schuldbewusst erkannte, dass Dan Freedman nicht ganz allein schuld daran war. Denn wir waren unwiderstehlich zueinander gezogen worden wie zwei Magneten, die man zu nahe beieinander
Weitere Kostenlose Bücher