Die Frau vom Leuchtturm - Roman
Aimee gehört hat, wie ihr Vater ihren Liebsten mit dem Tod bedrohte und ihn ins Gefängnis bringen wollte, nur weil er mit
ihr geschlafen hatte. Daher hatte sie keinen Grund zu der Annahme, dass er den Kerl jetzt als Schwiegersohn akzeptieren würde.«
»Ich glaube, ich ahne schon, worauf das alles hinausläuft«, meinte Dan. »Aimee hat ihrer Familie nicht von ihrem … ähem … Zustand erzählt …«
Er unterbrach sich, als die Kellnerin mit Tellern voller Eiern, Toast und einer Platte knusprigen Frühstücksspecks wiederkam.
»Natürlich hat sie es ihnen nicht gesagt«, gab ich ungeduldig zurück, als die Kellnerin uns das Essen hingestellt hatte und wieder gegangen war. »Sie war vollkommen aufgelöst.«
Dan angelte sich ein Stück Speck. »Aber sie hat es Ned Bingham erzählt«, vermutete er. »Der hatte nicht das geringste Interesse daran, sein wildes, ungebundenes Künstlerleben aufzugeben, nahm den nächsten Zug in den Norden und …«
Er steckte sich den Speck in den Mund und wartete darauf, dass ich seine Schlussfolgerung bestätigte.
Ich schüttelte den Kopf. »Wieder falsch«, antwortete ich und legte eine Pause ein, um Butter auf meinen Toast zu schmieren.
»Jetzt bestrafst du mich aber«, jammerte er.
»Nein«, sagte ich, aber natürlich gefiel es mir, es spannend zu machen und ihn zappeln zu lassen. »Ich versuche dir nur zu zeigen, wie unsinnig es ist, von einem falschen Schluss zum anderen zu springen.«
»Ich sage kein Wort mehr«, versprach er.
Ich warf ihm einen zynischen Blick zu, biss in die Ecke meines Toasts und kaute gründlich.
»Aber du hattest zumindest teilweise Recht«, gestand
ich ihm schließlich zu. »Aimee hat in der Tat an Ned Bingham geschrieben, in welcher Lage sie steckte. Sie hat ihn angefleht, in aller Heimlichkeit nach Freedman’s Cove zu kommen, sie zu holen und zu heiraten, wie er es ihr versprochen hatte.«
Skeptisch zog Dan die Augenbrauen hoch. »Das Mädchen war aber wirklich nicht besonders helle, oder?«
»Das ist unfair«, zischte ich und wedelte mit meinem Toast, um mein Urteil zu unterstreichen. »Wie die meisten jungen Frauen ihrer Zeit hat man Aimee Marks mit Absicht im Unklaren über die grundlegendsten Tatsachen des Lebens gelassen. Woher sollte sie wissen, was Liebe bedeutet? Abgesehen davon, was sie aus törichten viktorianischen Romanen wusste, in denen die Liebenden einander blumige Briefe schrieben und die Damen schon beim Gedanken an einen bloßen Knöchel in Ohnmacht fielen. Bevor Ned Bingham nach Freedman’s Cove hineinplatzte und sie im Sturm eroberte, hatte sie höchstwahrscheinlich nicht einmal einen nackten Mann gesehen.«
Ich verbannte den Zorn aus meiner Stimme. »Nach unseren Begriffen war Aimee Marks nichts weiter als ein behütetes Mädchen aus der Provinz, das sich hoffnungslos in diesen charmanten Mistkerl verliebt hatte. Sie hat von ganzem Herzen jedes Wort geglaubt, das Ned Bingham je zu ihr gesagt hat.«
»Aber er hat sie nicht umgebracht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein! Dieser elende Mistkerl hat etwas noch viel, viel Schlimmeres getan.«
Dan schwieg, während ich noch einen Schluck Kaffee trank und tief durchatmete.
»Nachdem er ihren Brief bekommen hatte, gelang
es Ned Bingham, Aimee eine Nachricht zu schicken. Darin schrieb er, er werde sie heimlich holen kommen, mit einem Boot. Er nannte ihr eine Nacht, in der kein Mond scheinen und das Wasser niedrig sein würde, und erklärte, sie solle auf Maidenstone Island auf ihn warten. Nachdem Amos Carter in dieser Nacht zu Bett gegangen war, was er immer um Mitternacht tat, sollte sie auf den Turm steigen und vom Rundgang aus nach Neds Signal Ausschau halten. Wenn sie sein Signal erwiderte und ihm damit mitteilte, dass die Luft rein war, würde er herbeisegeln und sie holen.«
»Nun ja, der gute Ned ist jedenfalls nicht das geringste Risiko eingegangen, ihrem Vater zu begegnen«, bemerkte Dan.
»Und genau das hat Aimee ja auch überzeugt, Neds Anweisungen auszuführen«, erklärte ich ihm. »In ihren Augen war das eine vollkommen logische und wildromantische Art, zusammen durchzubrennen. In der vereinbarten Nacht ging Aimee nach Maidenstone Island und stieg auf den Leuchtturm, um Ausschau nach Neds Signal zu halten. Aber als sie oben ankam, wartete Ned schon auf sie.«
»Oh, oh«, murmelte Dan.
»Ned schien völlig verzweifelt zu sein«, fuhr ich fort und ignorierte die Unterbrechung. »Er erklärte Aimee, er habe soeben erfahren, dass ihr Vater bereits Anklage
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