Die Frau vom Leuchtturm - Roman
gegen ihn erhoben hätte, und er sei ruiniert. Kein Millionär, der etwas auf sich hielt, würde ihn jetzt noch in sein Haus lassen, damit er seine Frau und seine Töchter porträtierte.«
Dan unterbrach mich schon wieder und wedelte mit der Hand, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Kann ich davon ausgehen, dass Binghams ganze Geschichte erstunken und erlogen war?«, wollte er ungeduldig wissen.
Ich nickte. »Das können wir wohl mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen«, sagte ich, »vor allem angesichts dessen, was der gute alte Ned als Nächstes tat.«
Dan beugte sich vor. »Erzähl weiter«, drängte er mich.
»Nun ja«, fuhr ich fort, »nachdem Ned Aimee über seinen Ruin aufgeklärt und sie daran erinnert hatte, dass sie - jedenfalls nach den Vorstellungen der damaligen Zeit - ein gefallenes Mädchen war, schlug er eine Lösung für ihr gemeinsames Problem vor, und zwar eine, von der der gerissene Bastard ganz genau wusste, dass sie exakt in einen von Aimees blumigen, romantischen Romanen passen würde.«
Dan zog die Augenbrauen hoch.
»Da er sie so sehr liebte und es nicht ertragen würde, dass sie die Demütigungen erlitt, mit denen sie durch ihre Schwangerschaft und seine Schande überhäuft werden würde«, sagte ich mit von Verachtung erfüllter Stimme, »schlug Ned Bingham ihr einen Selbstmordpakt vor.«
»Herrgott!«, rief Dan aus.
»Aimee und er würden sich ein letztes Mal küssen. Dann würden sie auf den Rundgang des Leuchtturms hinaustreten und sich auf den Felsen, die hundert Fuß unter ihnen lagen, zu Tode stürzen.«
»Himmel!«
»Und«, fuhr ich fort, »da Ned der perfekte Gentleman war, erlaubte er Aimee, als Erste zu springen. Dann könnte er in dem - äußerst unwahrscheinlichen - Fall, dass sie den Sturz irgendwie überlebte, edelmütig hinabsteigen
und ihr den Gnadenstoß geben, bevor er wieder auf den Turm kletterte und sich selbst hinunterstürzte.«
Dan sah aus, als werde ihm gleich übel. »Und Aimee ist gesprungen«, sagte er.
Ich nickte. »Es muss ein Leichtes für Ned gewesen sein, sich im Leuchtturm zu verstecken, bis Amos Carter herauskam und Aimees Leiche fand. Nachher muss sich Ned aus dem Turm geschlichen haben. Er ist in das Boot gestiegen, das er zwischen den Felsen versteckt hatte, und ist in die Nacht hinausgesegelt.«
»Nachdem er soeben das perfekte Verbrechen begangen hatte«, flüsterte Dan beeindruckt.
»Perfekt bis auf eine winzige Kleinigkeit«, sagte ich.
Verwirrt sah Dan mich an.
»Aimees Geist«, erklärte ich. »Aimee ist für alle Zeit irgendwo zwischen Tante Ellens Haus und dem Leuchtturm gefangen und wartet immer noch darauf, dass Ned Bingham zu ihr stößt.«
»Herrgott, hast du ihr etwa nicht die Wahrheit gesagt?«
Müde schüttelte ich den Kopf. »Sollte ich ihr etwa sagen, dass der einzige Mann, den sie je geliebt hat, sie verraten hat, nachdem sie für ihn das größte Opfer gebracht hat, das ein Mensch nur bringen kann?«
Ich senkte die Stimme und wischte mir eine Zornesträne von der Wange. »Wie hätte ich ihr so etwas Schreckliches sagen können, Dan?«
Über den Tisch hinweg griff er nach meiner Hand. »Ich verstehe dich«, sagte er.
Ich putzte mir die Nase mit der Papierserviette und schaute in seine besorgten grünen Augen auf. »Dein Frühstück wird kalt«, erinnerte er mich.
»Willst du denn nicht hören, was Aimee mir noch erzählt hat?«, fragte ich.
»Später«, gab er zurück, »nachdem du etwas gegessen und dich ein wenig beruhigt hast.« Er wies auf meinen Teller. »Und jetzt iss!«
»Ja, Sir«, antwortete ich ergeben.
29. Kapitel
Abgefüllt mit Cholesterinbomben und dem höllisch starken Kaffee des Krabb’s verließen wir das Restaurant zwanzig Minuten später.
Während wir drinnen gewesen waren, hatte der graue Himmel die unheilverkündende Farbe überreifer Pflaumen angenommen. Jetzt frischte der Wind zu kurzen, heftigen Böen auf, und selbst in dem geschützten Hafenbecken schaukelten weiße Schaumkronen auf den Wellen.
»Da gibt’s keinen Zweifel«, bemerkte Dan, als wir uns in den zurückgesetzten Eingang des Krabb’s duckten. Er sog die Luft ein wie einer dieser Seebären, die ihr ganzes Leben auf dem Meer verbracht haben. »Ausnahmsweise hatte die Wettervorhersage vollkommen Recht«, verkündete er. »Ich würde sagen, bei Einbruch der Nacht bekommen wir einen richtig üblen Sturm.«
Ich blinzelte zum Himmel hinauf. »Hatten wir den nicht schon gestern?«, fragte ich. Während ich sprach,
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