Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Anstrengung, die es sie gekostet, ihre Knie wanken. Eine tödliche Kälte ergriff sie, und mit einer echt weiblichen Regung setzte sie sich nieder, um sich nicht in Arthurs Arme zu werfen. »Julie!« schrie Lord Grenville auf.
Der durchdringende Schrei dröhnte wie ein Donnerschlag. Alles, was der bisher stumme Liebende nicht hatte sagen können, drückte dieser herzzerreißende Aufschrei aus.
»Nun, was ist ihr denn?« fragte der General.
Als er den Ausruf gehört hatte, hatte der Marquis seine Schritte beschleunigt und stand plötzlich vor den beiden Liebenden.
»Es ist nichts«, sagte Julie mit der bewundernswerten Kaltblütigkeit, über die Frauen vermöge eines natürlichen Instinkts oft in den größten Krisen des Lebens gebieten. »Die Kühle dieses Nußbaums hat mich beinahe ohnmächtig gemacht, und mein Doktor ist darüber so heftig erschrocken. Bin ich für ihn doch wie ein Kunstwerk, das noch nicht ganz vollendet ist. Wahrscheinlich hat er gefürchtet, es könnte zerstört werden ...«
Sie nahm kühn den Arm Lord Grenvilles, lächelte ihrem Manne zu, betrachtete noch einmal die Landschaft, bevor sie den Gipfel des Felsens verließ, und zog ihren Reisegefährten an der Hand mit sich fort.
»Dies ist ohne Frage die schönste Gegend, die wir gesehen haben«, sagte sie, »ich werde sie nie vergessen! Sieh doch, Victor, welche Fernsicht, welche Weite, und dabei wie mannigfaltig! Dieses Land läßt mich die Liebe verstehen.«
Sie lachte beinahe krampfhaft, doch so, daß ihr Mann davon getäuscht wurde, und sprang leichtfüßig in den Hohlweg hinein, wo sie verschwand.
»Mein Gott, so bald?« sagte sie, als Monsieur d'Aiglemont nicht mehr in der Nähe war. »Ist es möglich, mein Freund? In einem Augenblick können wir nicht mehr wir selbst sein und werden es nie wieder sein, dann werden wir nicht mehr leben...« – »Gehen wir langsam«, antwortete Lord Grenville, »die Wagen sind noch weit weg. Wir werden zusammen gehen, und wenn unsere Blicke sagen können, was die Lippen verschweigen, so werden unsere Herzen einen Augenblick länger leben.«
Sie gingen bei den Strahlen der untergehenden Sonne auf dem Damm am Flußufer, beinahe schweigend, verlorene Worte flüsternd, die sanft wie das Murmeln der Loire waren und dennoch die Seele im Innersten bewegten. Die Sonne umfloß sie mit ihrem rötlichen Schein, ehe sie schied, ein melancholisches Bild ihrer glücklosen Liebe. Der General, der in Unruhe darüber war, seinen Wagen nicht an der Stelle zu finden, wo er angehalten hatte, ging bald vor, bald hinter den Liebenden, ohne sich in die Unterhaltung zu mischen. Das vornehme, taktvolle Benehmen, das Lord Grenville während der Reise zeigte, hatte den Argwohn des Marquis zerstreut, und seit einiger Zeit ließ er seiner Frau volle Freiheit, im Vertrauen auf die punische Treue des Lorddoktors. Arthur und Julie wandelten noch eine Weile zusammen in dem schmerzlichen Einklang ihrer todeswunden Herzen. Als sie den steilen Abhang von Montcontour hinaufgestiegen waren, hatten sie beide eine unbestimmte Hoffnung gehegt, ein unruhiges Glücksgefühl, über das sie sich nicht klarzuwerden wagten; aber als sie von der Anhöhe herunterkamen, hatten sie das schwache Gebäude umgestürzt, das sie in ihrer Einbildung errichtet hatten und das sie nicht anzuhauchen wagten, so wie Kinder im voraus wissen, daß ein Atemzug ihr Kartenhaus zerstört. Noch am selben Abend reiste Lord Grenville ab. Der letzte Blick, den er auf Julie richtete, bewies unglücklicherweise, daß er von dem Augenblick an, wo ihre erwachende Neigung ihnen die Möglichkeiten einer so starken Leidenschaft enthüllte, recht gehabt hatte, vor sich selber auf der Hut zu sein.
Am nächsten Morgen saßen Monsieur d'Aiglemont und seine Frau ohne ihren Reisegefährten in ihrem Wagen und fuhren mit großer Eile auf dem Wege dahin, den die Marquise im Jahre 1814 zurückgelegt hatte, als sie, der Liebe noch unkundig, ihre Beständigkeit nahezu verwünscht hatte. Tausend vergessene Eindrücke stürmten auf sie ein. Das Herz hat sein eigenes Gedächtnis. Manche Frau, die unfähig ist, sich der wichtigsten Ereignisse zu entsinnen, wird ihr Leben lang die Erinnerungen bewahren, die sich auf ihre Gefühle beziehen. So entsann sich auch Julie vollkommen der unbedeutendsten Einzelheiten; sie entdeckte mit einem Glücksgefühl die kleinsten Vorfälle ihrer ersten Reise wieder, ja erinnerte sich sogar an einzelne Gedanken, die ihr an der einen oder anderen Stelle des
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