Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
und purpurnen Schleierhüllen versinkt.
An einem milden Augustabend im Jahre 1821 stiegen zwei Personen die steinigen Wege hinan, welche die Felsen, auf denen das Schloß liegt, zerschneiden, um die Höhen zu erreichen, die nach allen Seiten hin mannigfaltige Ausblicke gewähren. Diese beiden Menschen waren Julie und Lord Grenville; doch diese Julie schien eine neue Frau zu sein. Die Marquise hatte die frischen Farben der Gesundheit. Ihre Augen waren von einer lebendigen Kraft beseelt und schimmerten in dem feuchten Glanz, wie man ihn bei Kindern sieht, die dadurch so liebreizend erscheinen. Sie lächelte fröhlich, sie war glücklich zu leben, und sie sog das Leben mit vollen Zügen ein. Nach der Art zu schließen, mit der sie ihre kleinen Füße hob, wurde sie von keinem Leiden mehr beschwert, wie es ehemals ihre geringsten Bewegungen behinderte, sich in ihrem Blick, ihren Worten und Gebärden ausdrückte. Unter dem weißseidenen Sonnenschirm, der sie vor den Strahlen der Sonne schützte, glich sie einer Neuvermählten unter ihrem Schleier, einer Jungfrau, die im Begriffe steht, sich den Wonnen der Liebe hinzugeben. Arthur führte sie mit der Sorgfalt eines Liebenden, lenkte ihre Schritte wie die eines Kindes, suchte die besten Wege für sie, ließ sie den Steinen ausweichen, zeigte ihr einen schönen Ausblick oder eine Blume. Er war von einer unablässigen Güte, einer steten zärtlichen Aufmerksamkeit; ein Gefühl innerlicher Vertrautheit mit dem Wohlbefinden dieser Frau schien ihm in demselben oder noch stärkerem Maße innezuwohnen wie das Wissen um die Voraussetzungen seiner eigenen Existenz. Die Kranke und ihr Arzt schritten in gleichem Tempo vorwärts und waren nicht erstaunt über einen Einklang, der vom ersten Tage an zu bestehen schien, da sie zusammen gingen. Sie gehorchten einem und demselben Willen, standen, von den nämlichen Eindrücken bewegt, stille; ihre Blicke, ihre Worte entsprachen Gedanken, die sie gleichzeitig bewegten. Als sie auf dem Gipfel eines Weinbergs angelangt waren, wollten sie sich auf einem der langen weißen Steine ausruhen, die man beim Einbauen der Keller aus den Felsen herausgräbt. Doch bevor sich Julie niederließ, betrachtete sie die Landschaft.
»Welch schönes Land!« rief sie. »Hier wollen wir ein Zelt errichten und bleiben ... Victor«, rief sie, »kommen Sie doch, kommen Sie doch!«
Monsieur d'Aiglemont antwortete von unten mit einem Jägerruf, aber ohne seine Schritte zu beschleunigen; er blickte nur von Zeit zu Zeit, wenn die Windungen des Pfades es ihm gestatteten, zu seiner Frau empor, Julie atmete die Luft mit Vergnügen; sie hob den Kopf und warf Arthur einen jener beredten Blicke zu, durch welche eine geistvolle Frau alle ihre Gedanken ausdrückt.
»Oh«, begann sie von neuem, »ich möchte immer hier leben. Kann man jemals müde werden, dieses herrliche Tal zu bewundern? Kennen Sie den Namen dieses lieblichen Flusses, Mylord?« – »Es ist die Cise.« – »Die Cise«, wiederholte sie; »und dort unten, vor uns, was ist das?« – »Das sind die Hügel des Cher«, sagte er. »Und rechts? Ah, das ist Tours. Sehen Sie doch, wie wundervoll die Türme der Kathedrale sich in der Ferne ausnehmen!«
Sie verstummte und legte ihre Hand, mit der sie auf die Stadt gedeutet hatte, auf die Hand Arthurs. Schweigend betrachtete sie die Landschaft und die Schönheiten dieser harmonischen Natur. Das Murmeln des Wassers, die Reinheit der Luft und des Himmels stimmten zu den Gedanken, die in ihre liebenden jungen Herzen strömten.
»O mein Gott, wie ich dieses Land liebe!« wiederholte Julie mit wachsender kindlicher Schwärmerei. »Sie haben hier lange gewohnt?« fragte sie nach einer Pause. Bei diesen Worten fuhr Lord Grenville zusammen. »Dort«, antwortete er melancholisch und deutete auf eine Gruppe von Nußbäumen auf der Straße, »dort habe ich, als Gefangener, Sie zum erstenmal gesehen ...« – »Ja, damals war ich schon sehr traurig, diese Natur machte mir bange, und jetzt...« Sie stockte, Lord Grenville wagte nicht, sie anzusehen. »Ihnen«, sagte Julie nach einer langen Pause, »verdanke ich dies Vergnügen. Muß man nicht leben, um die Freuden des Lebens empfinden zu können, und war ich nicht bisher für alles tot? Sie haben mir mehr geschenkt als die Gesundheit, Sie haben mich gelehrt, ihren ganzen Wert zu empfinden ...«
Die Frauen haben ein unnachahmliches Talent, ihre Gefühle auszudrücken, ohne allzu lebhafte Worte zu gebrauchen; ihre Beredsamkeit
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