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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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liegt hauptsächlich im Ton, in der Gebärde, der Haltung, den Blicken. Lord Grenville barg das Gesicht in den Händen, denn ihm traten Tränen in die Augen. Diese Dankesworte waren die ersten, die Julie seit ihrer Abreise von Paris an ihn richtete. Ein ganzes Jahr lang hatte er die Marquise mit völliger Hingabe gepflegt. Von Monsieur d'Aiglemont unterstützt, hatte er sie in die Bäder von Aix geführt und sie dann an den Meeresstrand nach La Rochelle gebracht. Er ließ nicht nach, die Veränderungen zu beobachten, die seine weisen und doch einfachen Vorschriften in dem geschwächten Organismus Julies hervorbrachten. Wie ein leidenschaftlicher Blumenzüchter eine seltene Blume pflegt, hatte er sie behütet. Julie schien die umsichtige Fürsorge Arthurs mit dem ganzen Egoismus der an Huldigungen gewöhnten Pariserin aufzunehmen oder mit der Unbekümmertheit einer Kurtisane, die weder den Preis der Dinge noch den Wert der Menschen kennt und sie nach dem Grade der Nützlichkeit, den sie für sie besitzen, einschätzt. Man sollte den Einfluß, den die verschiedenartigsten Landschaften auf die Seele ausüben, nicht unterschätzen. Wenn wir am Meeresstrande unfehlbar von Melancholie gepackt werden, so bewirkt ein anderes Gesetz unserer eindrucksfähigen Natur, daß unsere Gefühle sich in den Bergen läutern: die Leidenschaft gewinnt an Tiefe, was sie an Heftigkeit zu verlieren scheint. Der Anblick des weiten Beckens der Loire, der sich anmutig emporschwingende Hügel, auf dem die beiden Liebenden saßen, mochten vielleicht das köstliche Ruhegefühl verursachen, mit dem sie zunächst das Glück genossen, das darin besteht, die ganze Stärke einer unter anscheinend unbedeutenden Worten verborgenen Leidenschaft zu erraten. In dem Augenblick, da Julie den Satz vollendete, der Lord Grenville so sehr ergriffen hatte, bewegte ein leiser Wind die Baumwipfel und teilte der Luft die Frische des Wassers mit; ein leichtes Gewölk verdeckte die Sonne, und weiche Schatten ließen alle Schönheiten dieser lieblichen Natur hervortreten. Julie wandte den Kopf zur Seite, damit der junge Lord nicht die Tränen sähe, die sie zurückdrängte und trocknete, denn die Rührung Arthurs hatte auch sie jäh überwältigt. Sie wagte nicht, die Augen zu ihm zu erheben, aus Furcht, er könne zuviel Glück in ihren Blicken lesen. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß sie zu dieser gefährlichen Stunde ihre Liebe tief in ihrem Herzen vergraben müsse. Doch freilich, das Schweigen konnte nicht minder verhängnisvoll sein. Als sie sah, daß Lord Grenville außerstande war, ein Wort zu sprechen, begann Julie mit sanfter Stimme: »Sie sind gerührt über das, was ich Ihnen gesagt habe, Mylord. Vielleicht drückt diese Rührung nur aus, daß ein vornehmes, gütiges Herz wie das Ihre ein falsches Urteil eingesteht. Sie werden mich für undankbar gehalten haben, da Sie mich auf dieser ganzen Reise, die glücklicherweise bald zu Ende geht, so kühl und reserviert oder spöttisch und unzugänglich fanden. Ich wäre Ihrer Fürsorge nicht wert gewesen, wenn ich sie nicht zu schätzen gewußt hätte. Mylord, ich habe nichts vergessen. Mein Gott, ich werde nichts vergessen, weder die Sorgfalt, mit der sie über mich wachten wie eine Mutter über ihr Kind, noch das gegenseitige Vertrauen, von dem unsere Gespräche erfüllt waren, noch das Zartgefühl, mit dem Sie mir stets begegnet sind; alles das sind Verführungen, gegen die wir uns nicht wappnen können. Mylord, es steht nicht in meiner Macht, Ihnen zu vergelten ...«
    Bei diesen Worten entfernte sich Julie rasch, und Lord Grenville machte keine Bewegung, sie zurückzuhalten. Sie stieg auf einen nahen Felsen und blieb dort unbeweglich stehen. Sie verbargen einander ihre Erregung; jeder mochte wohl still vor sich hin weinen. Der Gesang der Vögel bei Sonnenuntergang so fröhlich und voll zärtlicher Laute, mußte die heftige Erregung, die sie gezwungen hatte sich zu trennen, noch steigern: die Natur selbst verkündete die Liebe, von der sie nicht zu sprechen wagten.
    »Nun denn, Mylord«, begann Julie von neuem und trat in einer so würdevollen Haltung vor Arthur hin, daß sie es wagen konnte, seine Hand zu ergreifen, »ich verlange von Ihnen, daß Sie mir das Leben, das Sie mir wiedergegeben haben, rein und heilig lassen mögen. Hier trennen wir uns. Ich weiß«, fügte sie hinzu, als sie sah, daß Lord Grenville erblaßte, »daß ich zum Lohn für Ihre Selbstlosigkeit ein noch weit größeres Opfer von

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