Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Weges gekommen waren. Victor, der, seitdem seine Frau die Jugendfrische und ihre ganze Schönheit wiedererlangt hatte, sich aufs neue leidenschaftlich in sie verliebt hatte, drängte sich wie ein Liebhaber an sie. Als er versuchte, sie in seine Arme zu nehmen, machte sie sich sacht los und verstand es, dieser harmlosen Liebkosung auszuweichen. Sie schauderte vor der Berührung mit Victor zurück, dessen Körperwärme sie infolge ihres nahen Beisammensitzens spürte und teilte. Sie wollte sich allein auf den Vordersitz setzen, doch ihr Mann erwies ihr die Aufmerksamkeit und überließ ihr den Fond des Wagens. Sie dankte ihm dafür mit einem Seufzer, den er mißverstand. Dieser gewiegte Garnisonverführer deutete die Melancholie seiner Frau zu seinen Gunsten, und so war sie am Abend genötigt, mit einer Festigkeit zu ihm zu sprechen, die ihm imponierte.
»Mein Freund«, sagte sie zu ihm, »es hat nicht viel gefehlt, daß du mich getötet hättest. Du weißt es. Wäre ich noch ein junges Mädchen ohne Erfahrung, so könnte ich aufs neue mein Leben hinopfern. Doch ich bin Mutter, ich habe eine Tochter zu erziehen, und ich bin ihr ebensoviel schuldig wie dir. Ertragen wir ein Unglück, das uns in gleicher Weise trifft. Du bist der weniger zu Beklagende. Du hast einen Trost zu finden gewußt, den meine Pflicht, unsere gemeinsame Ehre und, mehr als das, die Natur mir verbieten. Sieh«, fügte sie hinzu, »du hast leichtsinnigerweise in einer Schublade drei Briefe von Madame de Sérisy vergessen; hier sind sie. Mein Schweigen beweist dir, daß du in mir eine duldsame Frau besitzest, die von dir nicht die Opfer fordert, zu welchen die Gesetze sie verurteilen. Aber ich habe genug nachgedacht, um zu wissen, daß unsere Rollen nicht die nämlichen sind und daß die Frau allein zum Unglück ausersehen ist. Meine Tugend ruht auf festen, sichern Grundsätzen. Ich werde untadelhaft leben, aber laß mich leben!«
Der Marquis war von der Logik verblüfft, die seine Frau, welche die Liebe scharfsinnig gemacht hatte, entfaltete, und mußte sich vor der wundervollen Haltung, wie sie den Frauen in solchen Krisen eigentümlich ist, beugen. Der instinktive Widerwillen, den Julie gegen alles, was ihre Liebe und die Forderungen ihres Herzens verletzte, bekundete, ist eine der schönsten Eigenschaften der Frau und kommt vielleicht von einer angeborenen Tugend, die weder die Gesetze noch die Zivilisation zu unterdrücken vermögen. Wer wird die Frauen also tadeln wollen? Wenn sie dem ausschließlichen Gefühl, das ihnen nicht erlaubt, zwei Männern zu gehören, Stillschweigen geboten haben – sind sie da nicht wie die Priester ohne Glauben? Strenge Gemüter werden den Kompromiß, den Julie zwischen ihren Pflichten und ihrer Liebe geschlossen hatte, tadeln, während die leidenschaftlichen ihn ihr als Verbrechen anrechnen werden. Diese allgemeine Verurteilung richtet sich entweder gegen das Unglück, von dem erwartet wird, daß es einen Ungehorsam gegen das Gesetz begeht, oder gegen die traurige Unvollkommenheit der Einrichtungen, auf denen die europäische Gesellschaft beruht.
Zwei Jahre vergingen, während welcher Monsieur und Madame d'Aiglemont das Leben von Leuten der Gesellschaft führten. Jeder ging seines Weges, und sie trafen sich öfter in den Salons als zu Hause. In dieser eleganten Form der Scheidung enden sehr viele Ehen der vornehmen Gesellschaft. Eines Abends waren die beiden Gatten ausnahmsweise zusammen in ihrem Salon. Madame d'Aiglemont hatte eine Freundin zum Diner bei sich gehabt. Der General, der sonst immer außerhalb dinierte, war zu Hause geblieben.
»Sie werden sehr erfreut sein, Marquise«, sagte Monsieur d'Aiglemont und stellte die Tasse, aus der er eben seinen Kaffee getrunken hatte, auf ein Tischchen. Er blickte Madame de Wimphen mit einer halb boshaften, halb betrübten Miene an und fügte hinzu: »Ich begebe mich längere Zeit auf eine Jagd mit dem Oberjägermeister. Sie werden mindestens acht Tage lang vollkommen Witwe sein, und das wünschen Sie doch ... Guillaume«, sagte er zu dem Diener, der die Tassen abtrug, »lassen Sie anspannen!« Madame de Wimphen war jene Louisa, der Madame d'Aiglemont seinerzeit das Zölibat hatte anraten wollen. Die beiden Frauen warfen sich einen Blick des Einverständnisses zu, der bewies, daß Julie in ihrer Freundin eine Vertraute ihrer Leiden gefunden hatte, eine unschätzbare, liebevolle Freundin, denn Madame de Wimphen war in ihrer Ehe sehr glücklich; und in der
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