Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
der Marquise einen Brief. »Ah!« rief sie aus und erbleichte. »Ich frage nicht von wem«, sagte Madame de Wimphen. Die Marquise las und hörte nichts mehr; ihre Freundin sah die heftigste Empfindung, die gefährlichste Gefühlsaufwallung auf ihrem Gesicht, das abwechselnd errötete und erblaßte. Schließlich warf Julie das Schreiben ins Feuer. »Dieser Brief bringt alles in mir zum Lodern! Oh, ich ersticke!« Sie stand auf und lief im Zimmer umher; ihre Augen brannten. »Er hat Paris gar nicht verlassen!« rief sie aus. Zwischen ihren abgehackt hervorgestoßenen Sätzen, die Madame de Wimphen nicht zu unterbrechen wagte, lagen bedrückende Pausen, die die Wirkung der immer nachdrücklicher aufeinanderfolgenden Sätze von Mal zu Mal steigerten, so daß die letzten Worte in einem furchtbaren Aufschrei endeten. »Er hat mich ohne mein Wissen immerfort gesehen. Ein unwissentlicher Blick von mir erhält ihn am Leben. Du weißt nicht, Louisa, er stirbt und will mir Lebewohl sagen. Er weiß, daß mein Mann von heute abend an mehrere Tage abwesend ist, und kann jeden Augenblick eintreten. Oh, es ist mein Verderben. Ich bin verloren. Höre! Bleibe bei mir. Vor zwei Frauen wird er es nicht wagen. O bleibe, ich fürchte mich!« – »Aber mein Mann weiß, daß ich zum Abendessen bei dir war, und wird mich abholen«, antwortete Madame de Wimphen. »Nun, bis du gehst, habe ich ihn weggeschickt. Ich werde unser beider Henker sein. Mein Gott, er wird glauben, daß ich ihn nicht mehr liebe. Und dieser Brief! Er enthielt Sätze, die ich mit Flammenzeichen vor mir geschrieben sehe.«
Ein Wagen fuhr am Portal vor.
»Oh!« rief die Marquise freudig, »er kommt in aller Öffentlichkeit, ohne ein Geheimnis daraus zu machen.« – »Lord Grenville!« meldete der Diener. Die Marquise blieb unbeweglich stehen. Als sie Arthur blaß, mager und eingefallen sah, war keine Strenge mehr möglich. Obwohl Lord Grenville sehr enttäuscht war, Julie nicht allein zu finden, schien er ruhig und kalt. Aber für diese beiden Frauen, die in die Geheimnisse seiner Liebe eingeweiht waren, hatten seine Haltung, der Klang seiner Stimme, der Ausdruck seiner Blicke etwas von der magnetischen Kraft, die man dem Zitterrochen zuschreibt. Die Marquise und Madame de Wimphen waren wie betäubt von der Unmittelbarkeit, mit der ein unerhörter Schmerz sich ihnen mitteilte. Der Klang der Stimme Lord Grenvilles verursachte Madame d'Aiglemont ein so heftiges Herzklopfen, daß sie ihm nicht zu antworten wagte, aus Furcht, ihm zu verraten, wie groß die Macht war, die er auf sie ausübte. Lord Grenville hatte nicht den Mut, Julie anzusehen, so daß Madame de Wimphen fast allein die gleichgültige Konversation aufrechterhielt. Julie dankte ihr für den Beistand, den sie ihr leistete, mit einem gerührten Blick. Die beiden Liebenden zwangen ihre Gefühle nieder und hielten sich in den vorgeschriebenen Grenzen der Pflicht und des Anstandes. Doch bald meldete man Monsieur de Wimphen; bei seinem Eintritt warfen sich die beiden Freundinnen einen Blick zu, mit dem sie sich wortlos die neuen Schwierigkeiten der Situation zu verstehen gaben. Es war unmöglich, Monsieur de Wimphen in das Geheimnis dieses Dramas einzuweihen, und Madame de Wimphen konnte ihrem Manne keine einleuchtenden Gründe angeben, um ihn zu bitten, noch länger bei ihrer Freundin zu verweilen. Als Madame de Wimphen ihren Schal umlegte, erhob sich Julie, als wolle sie ihr dabei behilflich sein, und sagte leise: »Ich werde Mut haben. Da er in der Öffentlichkeit zu mir gekommen ist, was habe ich da zu fürchten? Aber im ersten Moment, als ich ihn so verändert sah, wäre ich ohne deine Gegenwart vor ihm auf die Knie gesunken.«
»Nun, Arthur, Sie haben mir nicht gehorcht«, sagte Madame d'Aiglemont mit zitternder Stimme, als sie zurückkam und sich auf einem Sofa niederließ. Lord Grenville wagte nicht, sich zu ihr zu setzen. »Ich habe der Sehnsucht nicht länger widerstehen können, Ihre Stimme zu hören, bei Ihnen zu sein. Es war eine Verrücktheit, ein Wahnwitz. Ich bin nicht mehr Herr meiner selbst. Ich habe mich lange geprüft, ich bin zu schwach. Ich muß sterben. Aber sterben, ohne Sie gesehen zu haben, ohne das Rauschen Ihres Kleides noch einmal gehört zu haben, ohne Ihre Tränen aufgefangen zu haben – welch ein Tod!«
Er wollte sich von Julie entfernen, aber bei der plötzlichen Bewegung fiel ihm eine Pistole aus der Tasche. Mit einem Blick, aus dem jedes Gefühl und jeder Gedanke gewichen war,
Weitere Kostenlose Bücher