Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Eitelkeit, während die Anfängerin nur eine einzige befriedigt. Der junge Mann erregt sich überdies über das Zögern, die Angst, das Bangen, die Verwirrung und den Sturm bei der Frau von dreißig Jahren, die er alle niemals in der Liebe eines jungen Mädchens antrifft. Hat eine Frau dieses Alter erreicht, so verlangt sie von dem jungen Mann, er solle ihr die Achtung wiedergeben, die sie ihm geopfert hat; sie lebt für ihn, beschäftigt sich mit seiner Zukunft, will sein Leben glänzend gestalten, befiehlt ihm, Ruhm zu erlangen; sie gehorcht, bittet und befiehlt, erniedrigt sich und steht über ihm; bei tausend Gelegenheiten kann sie Trost spenden, wo das junge Mädchen nichts kann als jammern. Schließlich kann sich die Frau von dreißig Jahren, abgesehen von den Vorzügen ihrer gesellschaftlichen Stellung, zum jungen Mädchen machen, kann alle Rollen spielen, kann züchtig und schamhaft sein und kann selbst durch ein Unglück schöner werden. Zwischen diesen beiden klafft der unermeßliche Abstand des Vorhergesehenen und des Ungeahnten, der Kraft und der Schwäche. Die Frau von dreißig Jahren befriedigt alles, während das junge Mädchen aus Angst, keines mehr zu sein, nichts gewähren darf. Diese Gedanken und Stimmungen kommen im Herzen eines jungen Mannes hoch und fügen sich in ihm zur stärksten Leidenschaft: sie vereinigt in sich die künstlichen Empfindungen, die von den Sitten erzeugt werden, mit den wirklichen Empfindungen der Natur.
Der wichtigste und entscheidendste Schritt im Leben der Frauen ist gerade der, den eine Frau immer als den unbedeutendsten ansieht. Wenn sie verheiratet ist, gehört sie sich nicht mehr, sie ist Königin und Sklavin des häuslichen Herdes. Die Heiligkeit der Frau ist unvereinbar mit den Pflichten und den Freiheiten der großen Welt. Die Frauen emanzipieren heißt sie verderben. Einem Fremden erlauben, in das Heiligtum der Häuslichkeit einzutreten, heißt das nicht sich auf Gnade oder Ungnade ausliefern? Wenn aber eine Frau ihn hinzieht, ist das nicht ein Fehltritt oder, genauer gesagt, der Anfang eines Fehltritts? Man muß diese Theorie in ihrer ganzen Strenge akzeptieren oder die Leidenschaften freigeben. Bis zum heutigen Tag hat die Gesellschaft in Frankreich sich mit einem ›mezzo termine‹ beholfen: sie macht sich über das Unglück lustig. Wie die Spartaner, die nur die Ungeschicklichkeit bestraften, scheint sie den Betrug zuzulassen. Vielleicht indessen ist dieses System sehr klug. Die allgemeine Verachtung ist die furchtbarste aller Strafen, weil sie die Frau ins Herz trifft. Das allerwichtigste für die Frauen ist, daß sie respektiert werden, denn ohne Achtung existieren sie nicht mehr: darum ist Achtung das erste, was sie von der Liebe verlangen. Die Verderbteste unter ihnen verlangt vor allem andern Absolution für die Vergangenheit, wenn sie ihre Zukunft verkauft; sie versucht ihrem Liebhaber beizubringen, daß sie die Ehren, die die Welt ihr verweigern wird, gegen unwiderstehliche Wonnen eintauscht. Jeder Frau, die zum erstenmal einen jungen Mann bei sich empfängt und sich mit ihm allein sieht, muß die eine oder andere dieser Betrachtungen kommen, besonders wenn er, wie Charles de Vandenesse, von schöner Gestalt oder geistvoll ist. Und dementsprechend wird es kaum einen jungen Mann geben, der nicht irgendwelche geheimen Wünsche hätte, die sich auf eine von tausend Vorstellungen gründen, die die angeborene Liebe zu einer so schönen, geistvollen und unglücklichen Frau, wie es die Marquise d'Aiglemont war, rechtfertigen. So war denn die Marquise, als ihr Monsieur de Vandenesse gemeldet wurde, verwirrt genug; und er war, trotz der Sicherheit, die bei den Diplomaten fast eine Art Kleidungsstück ist, voller Scham. Jedoch zeigte die Marquise bald jenes wohlwollende Wesen, hinter dem die Frauen sich gegen die Deutungen der Eitelkeit verschanzen. Diese Haltung schließt jeden Hintergedanken aus und hält das Gefühl sozusagen in Grenzen, indem sie dieses in die Formen der Höflichkeit zwängt. Die Frauen halten sich dann so lange, wie sie wollen, in dieser zweideutigen Situation wie an einem Kreuzweg auf, von dem die Straßen je nachdem zur Achtung, zur Gleichgültigkeit, zum Erstaunen oder zur Leidenschaft führen. Nur mit dreißig Jahren kann eine Frau die Vorteile dieser Situation beherrschen. Sie versteht es dann zu lachen, zu scherzen, gerührt zu sein, ohne sich etwas zu vergeben. Sie besitzt nunmehr den nötigen Takt, um bei einem Manne alle Saiten
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