Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
der Empfindung anzuschlagen und auf die Töne zu lauschen, die sie aus ihm hervorlockt. Ihr Schweigen ist ebenso gefährlich wie ihre Worte. Ihr erratet nie, ob sie in diesem Alter aufrichtig oder falsch ist, ob sie sich verstellt oder ob sie es mit ihren Geständnissen ehrlich meint. Nachdem sie euch zunächst das Recht eingeräumt hat, mit ihr zu kämpfen, beschließt sie dann plötzlich das Geplänkel mit einem Wort, einem Blick, einer der Gebärden, deren Stärke ihr vertraut ist; sie entläßt euch und hütet euer Geheimnis wohl; sie steht in gleicher Weise unter dem Schutz ihrer Schwäche wie dem eurer Stärke und hat die Freiheit, euch mit einem Scherzwort zu opfern oder sich mit euch abzugeben. Obwohl die Marquise sich bei diesem ersten Besuch auf dieses neutrale Gebiet begab, verstand sie es doch, dabei die hohe Würde der Frau völlig zu bewahren. Ihre geheimen Leiden schwebten immer über ihrer künstlichen Heiterkeit wie ein leichtes Gewölk, das die Sonne nicht völlig verbirgt. Vandenesse schien es, als er ging, er hätte in dieser Unterhaltung ungekannte Wonnen gekostet; aber er blieb überzeugt, daß die Marquise eine der Frauen war, deren Eroberung einem zu teuer zu stehen kommt, als daß man es wagen darf, sie zu lieben.
›Das wäre‹, sagte er sich beim Fortgehen, ›eine unabsehbare Liebe aus der Ferne, ein Briefwechsel, der jeden ehrgeizigen zweitrangigen Beamten ermüden würde! Freilich, wenn ich wollte ...‹
Dieses ›wenn ich wollte‹ ist immer das Verhängnis der Eigensinnigen gewesen. In Frankreich führt die Eigenliebe zur Leidenschaft.
Charles besuchte Madame d'Aiglemont zum zweitenmal und glaubte zu bemerken, daß sie an seiner Unterhaltung Gefallen fand. Anstatt sich unbefangen dem Liebesglück hinzugeben, wollte er eine Doppelrolle spielen. Er versuchte leidenschaftlich zu erscheinen und danach kaltblütig den Fortgang dieses Liebeshandels zu analysieren, zugleich Liebender und Diplomat zu sein; aber er war jung und großherzig, und diese Prüfung mußte ihn in eine grenzenlose Liebe treiben; denn ob sie nun arglistig oder aufrichtig war, die Marquise war ihm immer überlegen. Jedesmal, wenn er Madame d'Aiglemont verließ, beharrte Charles in seinem Mißtrauen und unterwarf die fortschreitenden Stadien, die seine Seele durchliefen, einer strengen Prüfung, die seine eigenen Empfindungen tötete.
›Heute‹, sagte er sich nach dem dritten Besuch, ›hat sie mir zu verstehen gegeben, daß sie sehr unglücklich ist und allein im Leben steht, daß sie, wenn ihre Tochter nicht wäre, sehnlichst zu sterben begehrte. Sie war völlig entsagungsvoll. Ich bin aber doch weder ihr Bruder noch ihr Beichtvater, warum hat sie mir ihren Kummer anvertraut? Sie liebt mich.‹
Zwei Tage später griff er beim Fortgehen die Sitten unserer Zeit scharf an: ›Die Liebe nimmt die Farbe jedes Jahrhunderts an. Im Jahre 1822 ist sie doktrinär. Anstatt sie wie früher durch Tatsachen zu beweisen, diskutiert und erörtert man sie jetzt und hält von der Tribüne herab über sie Reden. Die Frauen verfügen über drei Mittel: erstens stellen sie unsere Leidenschaft in Frage, bestreiten uns die Kraft, so stark zu lieben wie sie. Koketterie! Die Marquise hat mich heute abend regelrecht herausgefordert. Zweitens stellen sie sich als sehr unglücklich hin, um unsern natürlichen Edelmut oder unsere Eigenliebe zu erregen. Schmeichelt es einem jungen Menschen nicht, über ein großes Mißgeschick hinwegzutrösten? Und schließlich haben sie die Manie der Jungfräulichkeit! Sie hat glauben müssen, ich hielte sie für ganz unberührt. Meine Gutgläubigkeit wird allen Berechnungen vortrefflich zustatten kommen.‹
Eines Tages aber, nachdem er all seinen Vorrat an Mißtrauen erschöpft hatte, fragte er sich, ob nicht die Marquise aufrichtig sein könnte; warum Entsagung heucheln, wenn so viele Leiden gespielt werden könnten. Sie lebte in so tiefer Einsamkeit, sie verbarg schweigend Kümmernisse, die sie kaum in dem Ton eines mehr oder minder unterdrückten Ausrufs ahnen ließ. Von diesem Augenblick an nahm Charles ein lebhaftes Interesse an Madame d'Aiglemont. Als er jedoch zu dem gewohnten Rendezvous kam, das ihnen beiden unentbehrlich geworden war – es war ihm wie in instinktiver, stillschweigender Verabredung eine bestimmte Stunde reserviert –, fand Vandenesse seine Freundin immer noch eher gewandt als wahrhaft, und sein letztes Wort war: ›Auf mein Wort, die Frau ist äußerst schlau.‹ Diesmal trat
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