Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
sehnsüchtig begehren.
Angesichts dieser Sprache und dieser erhabenen Schönheit fand Charles seine Gedanken dürftig. Er sah sich außerstande, Worte zu finden, die dieser schlichten und doch ergreifenden Szene angemessen waren, und griff zu Gemeinplätzen über das Schicksal der Frauen.
»Madame«, sagte er, »man muß seine Schmerzen vergessen können; sonst schaufelt man sich selbst das Grab.«
Aber die Vernunft wirkt gegenüber dem Gefühl immer jämmerlich, ihr sind, wie allem, was wirklich ist, Grenzen gesteckt, während die Empfindung unendlich ist. Schwunglosen Seelen ist es eigen, die Vernunft walten zu lassen, wo es zu empfinden gilt. Vandenesse schwieg also, sah Madame d'Aiglemont lange an und ging. Bislang unbekannte Gedanken rissen ihn mit sich fort und verklärten das Bild der Frau; so war er wie ein Maler, der erst die gewöhnlichen Modelle seines Ateliers als typisch genommen und dann plötzlich die ›Mnemosyne‹ des Museums entdecken sollte, die schönste und am wenigsten geschätzte der antiken Statuen. Charles war tief bewegt. Er liebte Madame d'Aiglemont mit der Treuherzigkeit der Jugend, mit der Glut, die der ersten Leidenschaft eine unsägliche Anmut und Unschuld verleiht, welche der Mann, wenn er später wieder liebt, nur noch in Trümmern wiederfindet; köstlich ist diese erste Liebe, und die Frauen, die sie hervorrufen, kosten sie fast immer mit Wonne aus, denn in diesem schönen Alter von dreißig Jahren, dem romantischen Gipfel im Leben einer Frau, können sie den ganzen Lauf dieses Lebens überschauen und in Vergangenheit und Zukunft zugleich blicken. Die Frauen kennen dann den ganzen Preis der Liebe und genießen sie in der Furcht, sie zu verlieren: noch verschönt die schwindende Jugend ihre Seele, und die Bilder einer drohenden Zukunft lassen ihre Liebe tiefer und leidenschaftlicher werden.
›Ich liebe‹, sagte diesmal Vandenesse, als er die Marquise verließ, ›und zu meinem Unglück eine Frau, die an Erinnerungen gefesselt ist. Der Kampf gegen einen Toten, der nicht mehr da ist, der keine Torheiten mehr begehen kann, der sich niemals mißliebig macht und nur noch Vorzüge besitzt, ist schwer. Heißt das nicht die Vollkommenheit in Person entthronen wollen, wenn man versucht, den Zauber der Erinnerung und die Hoffnungen zu töten, die einen verlorenen Geliebten überleben, weil er nämlich nichts als Sehnsucht erweckt hat, gerade das Schönste also und das Verführerischste, was die Liebe zu bieten hat?‹
Diese düstere Erwägung, die der Mutlosigkeit und der Furcht, kein Glück zu haben, entsprang – so fangen alle wahren Leidenschaften an –, war die letzte Berechnung seiner sterbenden Diplomatie. Von nun an hatte er keine Hintergedanken mehr, wurde der Spielball seiner Liebe und gab sich ganz den Nichtigkeiten dieses unbeschreiblichen Glückes hin, das sich von einem Wort, einem Schweigen, einer unbestimmten Hoffnung nährt. Er wollte platonisch lieben, kam Tag für Tag, um die Luft zu atmen, die Madame d'Aiglemont atmete, setzte sich in ihrem Hause fest und begleitete sie mit der Tyrannei einer Leidenschaft, die ihren Egoismus mit der völligsten Hingabe verschmilzt, überallhin. Die Liebe hat ihren Instinkt, sie findet den Weg zum Herzen, wie das winzigste Insekt mit einem unwiderstehlichen Willen, der vor nichts zurückschreckt, auf seine Blume lossteuert. So ist denn das Geschick einer Empfindung, wenn sie wahrhaftig ist, nicht zweifelhaft. Wird nicht eine Frau allen schrecklichsten Ängsten preisgegeben, wenn sie denken muß, daß ihr Leben von der mehr oder weniger großen Aufrichtigkeit, Kraft, Ausdauer abhängt, mit denen ihr Liebhaber an seinen Wünschen festhält? Es ist einer Frau, einer Gattin, einer Mutter unmöglich, sich der Liebe eines jungen Mannes zu erwehren; das einzige, was in ihrer Macht steht, ist, ihn von dem Augenblick an, wo sie das Geheimnis des Herzens errät – und eine Frau errät es immer –, nicht mehr zu sehen. Aber ein solcher Entschluß scheint zu entscheidend, als daß er einer Frau in einem Alter zugetraut werden könnte, wo die Ehe drückt, ermüdet, zur Last fällt, wo die eheliche Neigung kaum noch lau zu nennen ist, wenn sich nicht gar der Mann schon von ihr abgewandt hat. Sind die Frauen häßlich, so schmeichelt ihnen eine Liebe, die sie schön macht; sind sie jung und reizvoll, so muß die Verführung ihren eigenen Verführungskünsten ebenbürtig sein und ist dann unwiderstehlich; sind sie tugendhaft, so bringt ein
Weitere Kostenlose Bücher