Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
er ein und fand die Marquise in ihrer Lieblingshaltung, einer Haltung voller Schwermut; sie hob, ohne sich zu rühren, die Augen zu ihm auf und schaute ihn mit einem jener warmen Blicke an, die für ein Lächeln gelten. Madame d'Aiglemont drückte Vertrauen, drückte wahrhafte Freundschaft aus, aber nicht Liebe. Charles setzte sich und konnte nichts sagen. Er war von einem Gefühl gepackt, das er nicht in Worte fassen konnte.
»Was haben Sie?« fragte sie ihn mit weicher Stimme. »Nichts ... Oder doch, ich denke an etwas, was Sie noch nicht gekümmert hat.« – »Woran denn?« – »Ja ... der Kongreß ist vorbei.« – »Ach so«, versetzte sie, »Sie mußten also zum Kongreß fahren?«
Eine aufrichtige Antwort wäre die beredteste und zarteste Erwiderung gewesen; aber Charles gab sie nicht. In der Miene Madame d'Aiglemonts lag eine unbefangene Freundschaft, die alle Berechnungen der Eitelkeit, alle Hoffnungen der Liebe, alle Listen des Diplomaten zerstörte, sie wußte nichts davon oder schien nichts davon zu wissen, daß sie geliebt wurde; und als Charles sich nach seiner Verwirrung wieder gesammelt hatte, mußte er sich gestehen, daß er nichts getan und nichts gesagt hatte, was diese Frau berechtigte, es anzunehmen. Monsieur de Vandenesse fand die Marquise an diesem Abend, wie sie immer war: schlicht und herzlich, wahrhaft in ihrem Kummer, glücklich, einen Freund zu haben, stolz darauf, eine Seele getroffen zu haben, die die ihre verstehen konnte; sie ging nicht darüber hinaus und schien nicht daran zu denken, daß eine Frau sich zweimal verführen lassen konnte; aber sie hatte die Liebe kennengelernt und schien sie noch frisch in der Tiefe ihres verwundeten Herzens zu tragen. Offenbar konnte sie sich nicht vorstellen, daß das Glück einer Frau seinen berauschenden Zauber zweimal bringen kann; denn sie glaubte nicht nur an den Geist, sondern vielmehr an die Seele; und für sie war die Liebe keine Verführung, sondern barg alle edlen Verführungen in sich. In diesem Augenblick verwandelte sich Charles wieder in den jungen Mann, er wurde von der Ausstrahlung eines so stolzen Charakters bezwungen und wollte in alle Geheimnisse dieses Frauenlebens eingeweiht sein, das mehr durch den Zufall als durch einen Fehltritt gebrochen zu sein schien. Madame d‘Aiglemont warf ihrem Freund, als er sie nach dem Ausmaß des Kummers fragte, der ihrer Schönheit den Reiz der Trauer verlieh, nur einen Blick zu, aber dieser eindringliche Blick war wie das Siegel unter ein feierliches Abkommen.
»Stellen Sie mir solche Fragen nicht mehr!« erwiderte sie. »Genau heute vor drei Jahren ist der, der mich liebte, der einzige Mann, dessen Glück ich alles, bis auf meine Selbstachtung, geopfert hätte, gestorben; ist gestorben, um meine Ehre zu retten. Diese Liebe ist jung, rein, voller Illusionen zu Grabe gegangen. Ehe ich mich dieser Leidenschaft hingeben konnte, in die mich ein Verhängnis ohnegleichen hineintrieb, war ich durch etwas verführt worden, was so viele junge Mädchen ins Verderben stürzt: durch einen unbedeutenden, aber gutaussehenden Mann. Die Ehe hat meine Hoffnungen eine nach der andern zerpflückt. Heute habe ich das gesetzliche Glück und das Glück, das man strafbar nennt, verloren, ohne das Glück kennengelernt zu haben. Es bleibt mir nichts. Wenn ich schon nicht zu sterben verstand, will ich wenigstens meinen Erinnerungen treu bleiben.«
Bei diesen Worten weinte sie nicht, sie hielt die Augen gesenkt und preßte nervös ihre Finger, die sie wie gewohnt übereinandergelegt hatte. Das alles wurde ganz schlicht gesagt, aber der Ton ihrer Stimme sprach von einer Verzweiflung, die so tief wurzeln mußte wie ihre Liebe, und ließ Charles keinerlei Hoffnung. Dieses furchtbare Dasein, das sich in diesen drei Sätzen, untermalt von einem schwachen Händeringen, kundtat, dieser gewaltige Schmerz einer zarten Frau, dieser Abgrund hinter der Stirn einer schönen Frau, die Trostlosigkeit und die Tränen einer dreijährigen Witwenschaft – all das bezauberte Vandenesse. Er blieb schweigsam und fühlte sich klein vor dieser großen und edlen Frau: er sah nicht mehr ihre erlesene und vollendete körperliche Schönheit, nur noch die unvergleichliche Empfindsamkeit ihrer Seele. Endlich traf er das ideale Geschöpf, von dem alle, die das Leben auf die Leidenschaft gründen, die glühend nach ihr suchen und oft sterben, ohne all ihre ersehnten Schätze genossen zu haben, so schwärmerisch träumen, das Geschöpf, das sie so
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