Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
unterdrückte seinen Kummer und barg seine Liebe in der Tiefe seines Herzens wie einen Sarg im Meer. Solche Gedanken äußert man nicht, sie haben die Geschwindigkeit von Säuren, die beim Verdunsten den Tod bringen. Seine Stirn jedoch umwölkte sich, und Madame d'Aiglemont gehorchte dem Instinkt des Weibes: sie teilte seine Trauer, ohne sie zu begreifen. Sie wußte nicht, was sie Schlimmes getan hatte, und Vandenesse merkte es wohl. Er sprach von seiner Verfassung und seiner Eifersucht, als sei es eine der Hypothesen, die Liebende gern erörtern. Die Marquise begriff alles und wurde davon so lebhaft gerührt, daß sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. Das war der Augenblick, wo für sie der Himmel der Liebe begann. Himmel und Hölle sind zwei große Symbole und bezeichnen die beiden einzigen Punkte, um die sich unser Dasein dreht: Lust und Schmerz. Ist nicht der Himmel allezeit ein Bild für die Unendlichkeit unserer Empfindungen, das immer nur in Bruchstücken gemalt werden kann, weil das Glück ein Ganzes ist? Und stellt nicht die Hölle die unendlichen Martern unserer Schmerzen dar, aus denen wir ein Werk der Dichtung machen können, weil sie so verschiedenartig sind?
Eines Abends saßen die beiden Liebenden schweigend beieinander; sie schauten aufs Firmament, nach dem klaren Abendhimmel, auf den die letzten Strahlen, der untergehenden Sonne goldene und purpurne Töne warfen. In dieser Stunde scheint das langsame Abnehmen des Lichts sanfte Gefühle zu erwecken; unsere Leidenschaft schwingt sanft in uns nach, und inmitten der Ruhe genießen wir den Aufruhr einer ungekannten Gewalt. Die Natur zeigt uns in vagen Bildern das Glück und fordert uns auf, es zu genießen, wenn es uns nahe ist, oder bringt uns zur Reue, wenn es geflohen ist.
In diesen wonnetrunkenen Augenblicken, unter einem Baldachin von Licht, dessen zarte Harmonien mit geheimem Begehren verschmelzen, ist es schwer, den Wünschen des Herzens zu widerstehen, die jetzt ihren ganzen Zauber entfalten; der Kummer versinkt, die Freude wird zum Rausch, der Schmerz drückt nieder. Die Pracht des Abends ruft die Wünsche aus ihrem Versteck und macht ihnen Mut. Das Schweigen wird gefährlicher als das Reden, die Augen bekommen die ganze Gewalt der Himmelsweite, die sie widerspiegeln. Wenn man spricht, trägt das kleinste Wort eine unwiderstehliche Gewalt in sich. Ist jetzt nicht Licht in der Stimme, Purpurglanz im Blick? Ist es nicht, als ob der Himmel in uns oder wir im Himmel wären? So sprachen denn nun Charles und Juliette miteinander – seit einigen Tagen ließ sie sich so vertraulich von ihm anreden und nannte ihn Charles –, aber der ursprüngliche Gegenstand ihrer Unterhaltung war ihnen ganz entrückt; sie wußten kaum, wovon sie sprachen, und lauschten nur mit Entzücken auf die geheimen Gedanken, die von den Worten verhüllt wurden. Die Marquise überließ Vandenesse ihre Hand und hatte nicht mehr die Empfindung dabei, daß das eine Gunst sei.
Sie neigten sich zueinander, um eine der majestätischen Landschaften voller Schnee, Gletscher und grauer Schatten zu betrachten, die an den Abhängen phantastischer Wolkenungetüme lagen; eines der Gemälde voll heftiger Gegensätze von den roten Flammen bis zu den schwarzen Tönen, die, den Himmel mit einer unnachahmlichen flüchtigen Poesie schmücken: die prachtvollen Wolkentücher, die die Sonne bei ihrer Geburt umfangen und in die sie sterbend ihre letzten Strahlen gießt. In diesem Augenblicke streiften Julies Haare die Wangen Vandenesses: sie spürte die leichte Berührung und schauerte zusammen, und er noch mehr; alle beide waren allmählich auf eine der unerklärlichen, entscheidenden Stufen gelangt, wo die Stille die Sinne so empfindlich macht, daß die schwächste Erschütterung Tränen hervorruft und die Trauer zum Überströmen bringt, wenn das Herz in schwermütige Stimmungen versenkt ist oder unsagbare Wonnen auslöst, wenn es im Taumel der Liebe verstrickt ist. Julie drückte fast unwillkürlich die Hand ihres Freundes. Dieser beredte Händedruck gab der Schüchternheit des Liebenden Mut. Die Wonne dieses Augenblicks und die Hoffnungen auf die Zukunft, alles schmolz zusammen zu einer ersten Zärtlichkeit, zu dem keuschen und bescheidenen Kuß, den Madame d'Aiglemont sich auf die Wange geben ließ. Je schwächer die Gunst war, um so mächtiger, um so gefährlicher war sie. Zu ihrer beider Unglück war kein Schein und kein Falsch darin. Es war das Einvernehmen zweier schöner Seelen,
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