Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
von Neapel, Stambul oder Florida. Kein Ton fehlt diesem harmonischen Konzert. Man vernimmt das Getriebe der Welt und den romantischen Frieden der Einsamkeit, die Stimme von einer Million Menschen und die Stimme Gottes. Da ruht eine Riesenstadt unter den friedlichen Zypressen des Père-Lachaise.
An einem Frühlingsmorgen, gerade als die Sonne alle Schönheiten dieser Landschaft strahlen ließ, lehnte ich, vom Zauber dieses Bildes befangen, am Stamm einer starken Ulme, die ihre gelben Blüten dem Wind überließ. Beim Anblick dieses reichen, herrlichen Gemäldes dachte ich mit Bitterkeit an die Verachtung, die wir heutzutage selbst in unsern Büchern für unser Land bekunden. Ich verfluchte die armseligen Reichen, die unser schönes Frankreich satt haben und sich für schweres Geld das Recht erkaufen, ihr Vaterland zu verachten, wenn sie im Galopp durch Italien reisen und dessen Landschaften, die so gewöhnlich geworden sind, durchs Lorgnon betrachten. Ich betrachtete voller Liebe das moderne Paris und träumte, als plötzlich der Laut eines Kusses meine Einsamkeit störte und die grüblerischen Gedanken verscheuchte. Von der Seitenallee, die sich auf dem steilen Abhang entlangwindet, zu dessen Fuß der Bach plätschernd dahineilt, erblickte ich jenseits der Gobelinbrücke eine Frau, die mir noch recht jung vorkam. Sie war mit höchst eleganter Einfachheit gekleidet, und in ihrer sanften Miene schien sich das heitere Glück der Landschaft widerzuspiegeln. Ein schöner junger Mann setzte eben den hübschesten kleinen Jungen, den man sich denken konnte, nieder, so daß ich nie erfahren habe, ob der schallende Kuß auf die Wange der Mutter oder die des Kindes gegeben worden war. Der nämliche zarte und feurige Gedanke strahlte in den Augen, den Gebärden, dem Lächeln der beiden jungen Menschen. Geschwind und fröhlich hatten sie ihre Arme ineinander verschlungen und näherten sich in einem so wundervollen Gleichklang der Bewegungen, daß sie, nur sich hingegeben, meine Anwesenheit überhaupt nicht bemerkten. Aber ein anderes Kind, das mürrisch und trotzig dreinblickte und ihnen den Rücken kehrte, warf mir einen ergreifenden Blick zu. Dieses Kind, das genauso gekleidet war wie das andere, das ebenso anmutig, aber zarter von Gestalt war, ließ seinen Bruder bald hinter, bald vor seiner Mutter und dem jungen Mann allem sich tummeln und blieb stumm, regungslos und in der Haltung einer erstarrten Schlange. Es war ein Mädchen. Der Spaziergang der schönen Frau und ihres Gefährten hatte, ich möchte fast sagen, etwas Mechanisches an sich. Sie begnügten sich, vielleicht in Zerstreutheit, den kleinen Raum zwischen dem Steg und einem Wagen, der an der Biegung des Boulevards hielt, zu durchmessen, und begannen immer wieder denselben kurzen Gang, blieben stehen, sahen sich an, lachten wohl auch, je nach dem Verlauf der Unterhaltung, die bald lebhaft, bald schleppend, bald ausgelassen, bald ernst zu sein schien.
Verdeckt von der mächtigen Ulme konnte ich in aller Ruhe diese reizende Szene beobachten, deren Geheimnisse ich übrigens ohne Zweifel geachtet hätte, wenn ich nicht auf dem Gesicht des träumerischen und verschlossenen Mädchens die Spuren ernster Gedanken bemerkt hätte, die seinem Alter nicht angemessen waren. Sooft ihre Mutter und der junge Mann, nachdem sie bis in ihre Nähe gekommen waren, wieder umkehrten, senkte sie tückisch den Kopf und warf ihnen und ihrem Bruder einen verstohlenen Blick zu, der wirklich ungewöhnlich war. Aber nun erst die durchdringende Schlauheit, die boshafte Naivität, die wilde Aufmerksamkeit, die dieses kindliche Gesicht mit den zarten Schatten unter den Augen belebten, wenn die schöne Frau oder ihr Begleiter die blonden Locken des kleinen Jungen streichelten oder ihm über den rosigen Nacken und den weißen Kragen fuhren, wenn er mit seinen Kinderschritten versuchte, neben ihnen herzugehen! Es lag eine wahrhaft männliche Leidenschaft auf dem schmächtigen Gesicht dieses sonderbaren Mädchens. Sie litt oder grübelte. Was kündet bei einem so blühenden Wesen sicherer den Tod an? Das Leiden, das im Körper wohnt, oder das vorzeitige Denken, das seine kaum aufgeblühte Seele verzehrt? Eine Mutter weiß es vielleicht. Ich für mein Teil kenne jetzt nichts Schrecklicheres als den Gedanken eines Greises auf einer Kinderstirn; ein Lästerwort auf den Lippen einer Jungfrau ist weniger gräßlich. Auch die beinahe stupide Haltung dieses schon denkgewohnten Kindes, die Sparsamkeit seiner
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