Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
die von allem, was Gesetz ist, getrennt und von allem, was Verführung in der Natur ist, zueinandergeführt wurden. In diesem Augenblick trat der General d'Aiglemont ein.
»Das Ministerium ist umgebildet«, sagte er; »Ihr Onkel gehört dem neuen Kabinett an. Sie haben also die besten Aussichten, Botschafter zu werden, Vandenesse.«
Charles und Julie sahen sich an und erröteten. Diese gemeinsam empfundene Scham war wiederum ein Band. Sie hatten beide den nämlichen Gedanken, denselben Gewissensbiß; das ist ein furchtbares Band, das zwei Räuber, die eben einen Menschen umgebracht haben, ebenso stark aneinanderkettet wie zwei Liebende, die sich eines Kusses schuldig gemacht haben. Der Marquis mußte eine Antwort bekommen.
»Ich will Paris nicht mehr verlassen«, erwiderte Charles de Vandenesse. »Wir wissen warum«, versetzte der General und heuchelte die Schlauheit eines Mannes, der ein Geheimnis errät; »Sie wollen Ihren Onkel nicht verlassen, damit Sie Erbe seiner Pairswürde werden.«
Die Marquise flüchtete in ihr Schlafzimmer und fällte bei sich dieses vernichtende Urteil über ihren Gatten: ›Er ist aber auch zu dumm!‹
4. Der Finger Gottes
Zwischen der Barrière d'Italie und der Barrière de la Santé, auf dem innern Boulevard, der zum Jardin des Plantes führt, gibt es einen Ausblick, der jeden Künstler und selbst einen vom Genuß des Schauens bereits abgestumpften Reisenden, hellauf entzückt. Wenn sie eine kleine Anhöhe erreicht haben, von der aus sich der Boulevard im Schatten mächtiger dichtbelaubter Bäume mit der Anmut einer stillen, grünen Waldstraße hinabwindet, sehen sie vor sich zu ihren Füßen ein tiefes Tal, in dem ländlich anmutende Fabriken stehen; dazwischen grüne Matten; durchzogen von den braunen Wassern der Bièvre und des Gobelinflüßchens. Auf dem gegenüberliegenden Abhang drängen sich Tausende von Dächern wie die Köpfe einer Menschenmenge zusammen und verbergen das Elend des Faubourg Saint-Marceau. Die prächtige Kuppel des Panthéon, der düstere und melancholische Dom des Val-de-Grâce überragen stolz eine ganze Stadt, die wie ein Amphitheater aussieht, dessen Stufen die krummen Straßen bizarr abzeichnen. Von dieser Stelle erscheinen die beiden Bauwerke gigantisch; sie erdrücken die armseligen Wohnhäuser und überragen die höchsten Pappeln des Tales. Zur Linken taucht wie ein schwarzes fleischloses Gespenst die Sternwarte auf, durch deren Fenster und Galerien das Licht sonderbare Gestalten annimmt. In der Ferne funkelt die elegante Dachkrönung des Hotel des Invalides zwischen den bläulichen Massen des Luxembourg und den grauen Türmen von Saint-Sulpice. Von da aus gesehen, verschmelzen die Linien der Gebäude mit Laubwerk und Schatten, sind den Launen eines Himmels preisgegeben, dessen Farbe, Licht und Aussehen fortwährend wechseln. Schieben sich in weiter Ferne die Häuser in den Himmel, so schlängeln sich in ihrer Nähe ländliche Fußwege durch rauschende Baumreihen. Zur Rechten gewahrt man in einer weiten Ausbuchtung dieser seltsamen Landschaft den langen hellen Wasserstreifen des Canal-Saint-Martin, den rote Steine säumen und dessen Ufer Linden schmücken. Ihn begrenzen die wahrhaft römischen Bauwerke der Getreidemagazine. Im Hintergrund verschwimmen die dunstigen Hügel von Belleville, auf denen Häuser und Mühlen stehen, mit den Wolken. Zwischen der Reihe der Dächer jedoch, die das Tal einfassen, und diesem Horizont, der so vage ist wie die Erinnerung eines Kindes, liegt eine Stadt, die man nicht sieht, eine ungeheure Stadt, die wie in einem Abgrund zwischen den Dächern des Spitals de la Pitié und den Mauern des Ostkirchhofs liegt: zwischen Krankheit und Tod. Man hört nur ein dumpfes Brausen, ähnlich dem Dröhnen des Ozeans, der hinter den Klippen schäumt, als wollte er sagen: ›Ich bin da.‹ Wenn die Sonne ihre Lichtströme auf dieses Antlitz von Paris wirft, wenn sie seine Linien verschönt und vergeistigt; wenn sie einige Scheiben ins Glühen bringt, den Ziegelsteinen heitere Farben verleiht, auf den goldenen Kreuzen funkelt, die Mauern wie mit Silber bekleidet und die Luft in einen Gazeschleier verwandelt; wenn sie die starken Gegensätze von Licht und phantastischen Schatten hervorbringt; wenn der Himmel blau ist und die Erde braust, wenn die Glocken reden: dann kann man von dort oben ein sprechendes Märchenbild bewundern, das die Phantasie nie wieder vergißt und in das man gerade so vernarrt ist wie in einen wundervollen Blick
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