Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
erdenfrommes Gefühl sie dazu, gerade in der Größe der Opfer, die sie ihrem Geliebten bringen, und der Glorie, die sie in diesem schweren Kampf erringen, ihre Rechtfertigung zu finden. Alles ist ein Fallstrick. Und so ist gegen so starke Versuchung keine Lehre stark genug. Die strenge Einschließung, die der Frau in Griechenland und im Orient geboten war und die jetzt in England Mode wird, ist für die häusliche Moral die einzige Schutzwehr; aber die Lustbarkeiten der Welt gehen unter der Herrschaft dieses Systems zugrunde: Gesellschaft, Umgangsformen, Eleganz des guten Tones sind alsdann nicht mehr möglich. Die Völker haben zu wählen.
Einige Monate nachdem Madame D’Aiglemont Vandenesse kennengelernt hatte, fand sie denn also ihr Leben mit dem dieses jungen Mannes aufs engste verknüpft; ohne allzu verwirrt zu sein, ja sogar mit einem gewissen Vergnügen, staunte sie, daß sie seinen Geschmack und seine Gedanken teilte. Hatte sie das Gedankenleben Vandenesses angenommen, oder hatte sich Vandenesse all ihren Hinfällen angepaßt? Sie grübelte nicht darüber. Die wunderbare Frau war schon vom Strudel der Leidenschaft ergriffen und redete sich immer noch mit der irreführenden Gutgläubigkeit der Angst ein: ›O nein! Ich will dem treu bleiben, der für mich gestorben ist.‹
Pascal hat gesagt: ›An Gott zweifeln heißt an ihn glauben.‹ Ebenso wehrt sich eine Frau nur, wenn sie gefangen ist. An dem Tage, an dem die Marquise sich eingestand, daß sie geliebt wurde, schwankte sie zwischen tausend widerstreitenden Empfindungen. Die abergläubischen Ängste der Erfahrung wollten sich einmischen. Würde sie glücklich sein? Konnte sie das Glück außerhalb der Gesetze finden, auf die die Gesellschaft, zu Recht oder Unrecht, ihre Moral gegründet hat? Bisher hatte ihr das Leben nur Bitternis zu kosten gegeben. Konnten die Bande, die zwei Wesen vereinten, zwischen denen die Konventionen der Gesellschaft eine Schranke errichteten, glücklich verknotet werden? Jedoch, kann das Glück je zu teuer erkauft werden? Vielleicht, daß sie endlich das Glück fände, das sie so glühend gewollt hatte, nach dem zu suchen doch auch so natürlich ist! Die Neugier verficht immer die Sache der Liebenden. Gerade als die Marquise sich diesen geheimen Betrachtungen hingab, trat Vandenesse ein. In seiner Gegenwart versank der metaphysische Spuk der Vernunft. Wenn ein Gefühl bei einem jungen Mann und bei einer Frau von dreißig Jahren in gleicher Heftigkeit ununterbrochen aufeinanderfolgende Wandlungen durchläuft, so kommt immer ein Augenblick, wo Gründe und Gegengründe sich in einer einzigen, letzten Erwägung aufheben, die in einen Wunsch mündet und diesen untermauert. Je länger der Widerstand währte, desto mächtiger ist dann die Stimme der Liebe. Hier hört denn also der Unterricht oder, besser gesagt, die Studie am ›Muskelmodell‹ auf, wenn es einer Geschichte, die die Gefahren und den Mechanismus der Liebe mehr erklären als malen will, erlaubt ist, der Malerei einen ihrer bildhaftesten Ausdrücke zu entlehnen. Von diesem Augenblick an trug jeder Tag dem Skelett neue Farben auf, bekleidete es mit den Reizen der Jugend, umgab es wieder mit Fleisch und Blut, belebte seine Bewegungen, lieh ihm den Glanz, die Schönheit, den Zauber der Empfindung und die Reize des Lebens. Charles fand Madame d'Aiglemont nachdenklich; und als er sie in dem eindringlichen Ton, der die süßen Zauberkräfte des Herzens so überzeugend macht, fragte: »Was haben Sie?«, hütete sie sich zu antworten. Diese köstliche Frage sprach von einem völligen Einklang der Seelen, und die Marquise wußte mit dem wunderbaren Instinkt des Weibes, daß Klagen oder Aussprechen ihres Leides ein gewisses Entgegenkommen gewesen wäre. Wenn schon jedes Wort eine Bedeutung hatte, die sie alle beide verstanden, welchem Abgrund schritt sie entgegen? Sie las klar und scharf in ihrem eigenen Innern und schwieg. Auch Vandenesse sprach kein Wort.
»Ich bin leidend«, begann sie endlich. Die Bedeutung des Augenblicks, in dem die Sprache der Augen ein völliger Ersatz für die Ohnmacht der Rede war, machte ihr bange.
»Madame«, erwiderte Charles mit zärtlicher, aber heftig bewegter Stimme, »Seele und Leib, alles hängt zusammen. Wenn Sie glücklich wären, wären Sie jung und blühend. Warum lehnen Sie es ab, von der Liebe all das zu begehren, was die Liebe Ihnen geraubt hat? Sie halten das Leben in einem Augenblick für beschlossen, wo es für Sie erst beginnt.
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