Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Vertrauen Sie sich der Obhut eines Freundes an. Es ist so süß, geliebt zu werden!«
»Ich bin schon alt«, versetzte sie, »nichts könnte mich also entschuldigen, daß ich nicht so fortfahre zu leiden, wie ich gelitten habe. Überdies, Sie sagen, man muß lieben! Ich aber muß nicht, und ich kann nicht! Außer Ihnen, dessen Freundschaft meinem armen Leben ein bißchen guttut, gefällt mir kein Mensch, und keiner könnte meine Erinnerungen auslöschen. Ich nehme den Freund an, ich will keinen Liebhaber. Wäre es edelmütig von mir, ein welkes Herz für ein junges zum Tausch zu geben, Illusionen zu empfangen, die ich nicht teilen kann, ein Glück zu erzeugen, an das ich nicht glauben möchte oder das zu verlieren ich zitterte? Vielleicht, daß ich seine Hingabe nur mit Egoismus erwidern könnte; daß ich kühl erwöge, wo er glühte; meine Erinnerungen würden die Lebhaftigkeit seiner Wünsche kränken. Nein, sehen Sie, für eine erste Liebe gibt es keinen Ersatz. Schließlich, welcher Mann wollte mein Herz um diesen Preis?«
Diese Worte, in denen eine furchtbare Koketterie lag, waren die letzte Verteidigung der Klugheit.
›Wenn er den Mut verliert, gut; dann bleibe ich allein und treu.‹ Dieser Gedanke flog ihr durchs Herz und war für sie der Strohhalm, nach dem ein Ertrinkender greift, ehe ihn die Wogen fortreißen.
Als Vandenesse dieses Urteil hörte, entrang sich ihm ein unwillkürliches Beben, das der Marquise stärker ans Herz griff als all sein bisheriges getreues Werben. In uns Zartgefühl oder Empfindungen zu treffen, die so erlesen sind wie ihre eigenen: das rührt die Frauen am meisten; denn für sie sind Feinheit und Anmut der Seele die Kennzeichen des ›Wahren‹. Charles' Bewegung verriet wahre Liebe. Madame d'Aiglemont ermaß die Stärke von Vandenesses Zuneigung an der Stärke seines Schmerzes. Der junge Mann versetzte kalt: »Sie haben vielleicht recht. Neue Liebe, neues Leid.«
Dann wechselte er den Gesprächsstoff und unterhielt sie von gleichgültigen Dingen; aber er war sichtlich erregt und betrachtete Madame d'Aiglemont mit so gespannter Aufmerksamkeit, als sähe er sie zum letztenmal. Schließlich erhob er sich und sagte bewegt: »Leben Sie wohl, Madame!« – »Auf Wiedersehen?« gab sie mit der feinen Koketterie zurück, deren Geheimnis nur wenigen Frauen gegeben ist.
Er antwortete nicht und ging.
Als Charles nicht mehr da war, als sein leerer Stuhl statt seiner sprach, empfand sie tausendfache Reue und machte sich Vorwürfe. Die Leidenschaft macht in einer Frau, die wenig großherzig gehandelt oder ein edles Herz verwundet zu haben glaubt, in diesem Augenblick einen mächtigen Schritt vorwärts. Niemals soll man sich in der Liebe vor Verstimmungen hüten; sie sind sehr heilsam; die Frauen erliegen nur dem Angriff einer Tugend. Das Wort: ›Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert‹ ist kein Paradox eines Bußpredigers. Vandenesse ließ sich mehrere Tage nicht sehen. An jedem Abend zu der Stunde, wo sie sonst beisammen waren, erwartete ihn die Marquise voll Ungeduld und Reue. Schreiben wäre ein Geständnis gewesen; überdies sagte ihr der Instinkt, er würde wiederkommen. Am sechsten Tage meldete ihr Kammerdiener ihn an. Nie hatte sie diesen Namen mit größerer Freude gehört. Ihr Jubel erschreckte sie.
»Sie haben mich schwer bestraft!« redete sie ihn an. Vandenesse sah sie verständnislos an.
»Bestraft!« gab er zurück. »Und wofür?«
Charles hatte die Marquise sehr wohl verstanden; aber er wollte sich für die Qualen rächen, denen er von dem Augenblick an ausgeliefert war, als sie diese ahnte.
»Warum sind Sie nicht mehr zu mir gekommen?« fragte sie lächelnd. »Haben Sie niemanden empfangen?« Er gab diese Frage zurück, um einer direkten Antwort auszuweichen. »Monsieur de Ronquerolles und Monsieur de Marsay, der kleine Esgrignon, waren hier, der eine gestern, der andere heute vormittag, etwa zwei Stunden. Ich habe, glaube ich, auch Madame Firmiani und Ihre Schwester, Madame de Listomère, bei mir gesehen.«
Noch ein Schmerz! Diese Qual können nur die verstehen, die mit solcher wilden und despotischen Leidenschaft lieben, daß sie immer zu wahnsinniger Eifersucht neigen und das geliebte Wesen jedem fremden Einfluß entziehen wollen.
›Wie!‹ sagte sich Vandenesse, ›sie hat Gäste empfangen, sie hat zufriedene Leute bei sich gesehen und hat mit ihnen geplaudert, während ich mich in Einsamkeit vergrub und unglücklich war!‹
Er
Weitere Kostenlose Bücher