Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Bewegungen, alles interessierte mich. Ich beobachtete sie neugierig. Aus einer den Beobachtern eigenen Laune heraus verglich ich sie mit ihrem Bruder und suchte ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszufinden. Das Mädchen hatte braune Haare, schwarze Augen und eine frühreife Gestalt; was einen lebhaften Kontrast zu dem blonden Haar, den meergrünen Augen und der schwächlichen Zartheit ihres jüngeren Bruders bildete. Die Schwester mochte etwa sieben bis acht, das Brüderchen kaum sechs Jahre alt sein. Sie waren gleich gekleidet. Als ich sie jedoch aufmerksam ansah, bemerkte ich an ihren Halskragen einen recht unbedeutenden Unterschied, der mir aber später einen ganzen Roman in der Vergangenheit, ein ganzes Drama in der Zukunft enthüllte. Es war eigentlich nur eine Geringfügigkeit. Ein einfacher Saum umschloß den Kragen des brünetten Mädchens, während der Kragen des Knaben mit hübschen Stickereien verziert war, die ein Geheimnis des Herzens, eine verschwiegene Vorliebe verrieten, welche die Kinder in der Seele ihrer Mütter lesen, wie wenn der Geist Gottes in ihnen wäre. Der sorglose, muntere Blondkopf sah mit seinem frischen Teint, seinen anmutigen Bewegungen, seiner sanften Miene wie ein Mädchen aus; wohingegen die Ältere, trotz ihrer Kraft, trotz der Schönheit ihrer Züge und ihrer scheinbar gesunden Gesichtsfarbe den Eindruck eines kränklichen Jungen machte. Ihre lebhaften Augen, denen der feuchte Glanz fehlte, der den Kinderaugen so viel Zauber verleiht, schienen, wie die der Höflinge, von einem innern Feuer ausgedörrt. Außerdem hatte das Weiß ihrer Haut einen matten Schimmer, einen Olivton, was auf einen starken Charakter hindeutet. Schon zweimal hatte der Bruder ihr mit rührender Anmut, einem reizenden Blick und einer ausdrucksvollen Miene, die Charlet entzückt hätte, das kleine Jagdhorn hingestreckt, in das er ab und zu blies; aber beidemal hatte sie auf seine mit einschmeichelnder Stimme vorgebrachte Aufforderung: »Da, Hélène, willst du es?« nur mit einem wilden Blick geantwortet. Das Mädchen schien unter seiner scheinbar gleichmütigen Miene düster und wütend zu sein; ja, sie zitterte und errötete merklich, wenn ihr Bruder zu ihr trat; aber der Junge schien die finstere Laune seiner Schwester nicht zu bemerken, und seine mit Teilnahme gemischte Sorglosigkeit stellte vollends den Gegensatz her zwischen dem echt kindlichen Wesen und dem sorgenvollen Wissen des Erwachsenen, das schon auf dem Antlitz des Mädchens ausgeprägt war und es mit seinen düstern Wolken umschattete.
»Mama, Hélène will nicht spielen!« rief der Kleine. Er benutzte für seine Klage einen Augenblick, in dem seine Mutter und der junge Mann schweigend auf der Brücke stehengeblieben waren. »Laß sie, Charles! Du weißt ja, daß sie immer mürrisch ist.«
Diese Worte, die von der Mutter, die sich brüsk mit dem jungen Mann abwandte, nur so hingesprochen wurden, trieben Hélène Tränen in die Augen. Sie schluckte sie schweigend hinunter, warf ihrem Bruder einen der bohrenden Blicke zu, die mir unerklärlich schienen, und sah zuerst mit einer düstern Klarheit im Blick den Abhang hinunter, auf dem sie stand, dann auf das Flüßchen Bièvre, die Brücke, die Landschaft und auf mich.
Ich fürchtete, von dem frohen Paar bemerkt zu werden und seine Unterhaltung zu stören; ich zog mich also sachte zurück und verbarg mich hinter einer Holunderhecke, deren Laub mich allen Blicken völlig entzog. Ich setzte mich still auf die Böschung und sah schweigend bald auf die wechselnde Schönheit der Landschaft, bald auf das wilde Mädchen, das ich noch durch die Lücken des Buschwerks und zwischen den Stämmchen der Holundersträucher, an denen mein Kopf ruhte und die sich fast in gleicher Höhe mit dem Boulevard befanden, sehen konnte. Als Hélène mich nicht mehr erblickte, schien sie unruhig; ihre schwarzen Augen suchten mich mit unbeschreiblicher Neugier im entfernteren Teil der Allee und hinter den Bäumen. Was war ich denn für sie? In diesem Augenblick ertönte das unschuldige Lachen des kleinen Charles wie ein Vogelgezwitscher in das Schweigen. Der schöne, junge Mann, der blond wie das Kind war, ließ es in seinen Armen tanzen und küßte es; dabei überhäufte er es mit einer Fülle dieser kleinen, bunt aufeinanderfolgenden und ihres eigentlichen Sinnzusammenhangs beraubten Worte, mit denen wir uns liebevoll an die Kinder wenden. Die Mutter lächelte bei diesem traulichen Spiel und richtete zweifellos
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