Die Frauen der Calhouns 05 - Megan
er her, steht mir im Weg und bettelt, dass ich ihm Geschichten von der Seefahrt erzähle.«
»Irgendetwas hat ihn verschreckt.« Eine Gänsehaut lief Nathaniel über den Rücken. Abwesend rieb er sich den Nacken. »Warum rennt ein Junge weg? Weil er Angst hat, oder weil er verletzt wurde oder weil er unglücklich ist.«
»Der Junge ist nichts dergleichen«, sagte Dutch überzeugt.
»Hätte ich auch nicht gedacht.« In Kevins Alter hatten alle drei Begründungen auf ihn gepasst. Er war sich sicher, er hätte die Anzeichen erkannt.
Das Prickeln in seinem Nacken ließ nicht nach. Automatisch ging sein Blick wieder hinaus auf die Klippen. »Ich hab da so eine Ahnung«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Was?«
»Nichts Genaues, nur ein Gefühl.« Das mulmige Gefühl war in seinen Magen gewandert. »Ich werd besser mal nachsehen.«
Die Klippen zogen ihn regelrecht an. Nathaniel wehrte sich nicht gegen den Sog, auch wenn jeder Schritt auf dem unebenen Gebiet den Schmerz zurückbrachte und ihm den Atem raubte. Eine Hand gegen die Rippen gepresst, ließ er den Blick unablässig über die Felsen und das hohe Gras schweifen.
Kinder fühlten sich magisch angezogen von diesem Ort. Er wusste es aus Erfahrung. Als Junge war er oft hergekommen. Und als Mann.
Die Sonne stand hoch am Himmel, das Meer schimmerte saphirblau, gekrönt von weißem Schaum, wo es tief unten stetig gegen die Felsen schlug. Wunderschön – und tödlich. Vor seinem geistigen Auge sah er einen Jungen, der über die Klippen rannte, stolperte, rutschte … Übelkeit schoss in ihm auf, so jäh, dass er stehen blieb und nach Luft schnappte.
Nein, Kevin war nichts passiert. Er würde nicht zulassen, dass Kevin etwas passierte.
Er ging weiter, kletterte höher, rief immer wieder den Namen des Jungen.
Ein Vogel erregte seine Aufmerksamkeit. Eine schneeweiße Möwe, im Flug elegant wie ein Balletttänzer, kreiste über den Felsen und stieß einen Schrei aus, der fast menschlich klang und auf unheimliche Art an eine Frau erinnerte. Nathaniel blieb stehen und sah auf. Er hätte schwören mögen, dass die Möwe grüne Augen hatte. Smaragdgrüne Augen.
Die Möwe sank herab, setzte sich weiter unten auf einen Felsenkamm und sah zu ihm hin, so als warte sie auf ihn.
Die Schmerzen seines malträtierten Körpers ignorierend, begann Nathaniel den Abstieg. Er glaubte, den Duft einer Frau wahrzunehmen, süß und zart und beruhigend, doch es war nur der Geruch der See.
Der Vogel flog auf, stieß hoch in die Lüfte und gesellte sich zu einem zweiten, ebenso gleißend weiß. Eine Weile kreisten sie zusammen über den Felsen, Schreie ausstoßend wie Freudenrufe, dann segelten sie hinaus auf die offene See.
Ein wenig kurzatmig erreichte Nathaniel den Felsvorsprung und sah die Mulde, in der ein kleiner Junge zusammengekauert hockte.
Sein erster Impuls war, den Jungen in seine Arme zu ziehen und ihn festzuhalten. Doch er hielt sich zurück. Er konnte nicht sicher sein, ob nicht er der Grund war, weshalb Kevin weggelaufen war.
So setzte er sich nur zu ihm und begann leise zu reden. »Tolle Aussicht.«
Kevin hatte den Kopf auf die Knie gelegt und hob ihn auch nicht an. »Ich geh nach Oklahoma zurück.« Es sollte wohl trotzig klingen, doch Angst und Kummer übertönten die Worte. »Ich kann den Bus nehmen.«
»Sicher. Dann siehst du viel von der Landschaft. Aber ich dachte, es gefällt dir hier?«
Ein Schulterzucken war die Antwort. »Ist ganz okay.«
»Macht dir hier jemand das Leben schwer, Sportsfreund?«
»Nein.«
»Hast du dich mit Alex gestritten?«
»Nein, das ist es nicht. Ich gehe einfach nur zurück nach Oklahoma. Gestern Nacht fuhr kein Bus mehr, deshalb musste ich warten und kam hierher. Wahrscheinlich bin ich eingeschlafen.« Kevin hob den Kopf, sah Nathaniel jedoch nicht an. »Du kannst mich nicht zwingen, zurückzugehen.«
»Weißt du, ich bin größer und stärker als du, also würde ich dich wohl zwingen können.« Er sagte es ruhig und wollte dem Jungen übers Haar streichen, doch Kevin zuckte zurück. »Aber eigentlich will ich dich zu nichts zwingen, bevor ich nicht verstehe, was du denkst.«
Er wartete geduldig ab, lauschte auf die See und den Wind, bis er merkte, dass die Anspannung in Kevin ein wenig nachließ. »Deine Mutter macht sich ziemlich große Sorgen um dich. Die anderen auch. Vielleicht solltest du zurückgehen und wenigstens Auf Wiedersehen sagen.«
»Sie wird mich nicht gehen lassen.«
»Sie liebt dich sehr.«
»Sie hätte
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