DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
Jakob Fürstenberg, Finanzier und Vertrauter Lenins, tritt der deutsche Geheimdienst an Lenin heran und schlägt ihm vor, ihm freies Geleit durch Deutschland zu gewähren und seine Weiterreise nach Russland zu organisieren. Doch die Deutschen zeigen sich knauserig: Sie genehmigen die Durchreise nur für zwei Personen. Sinowjew, der Lenin begleitet, telegrafiert: „Tonton will mehr wissen. Offizieller individueller Transit inakzeptabel.“ [24] Am Ende werden es zweiunddreißig Personen sein.
Lenin schreibt an Inessa: „Ich hoffe, dass wir unsere Reise mit Dir antreten werden. Mit Dir, hoffe ich.“ Wenn er die Macht übernimmt, sollen beide Frauen an seiner Seite stehen. Der Waggon, in dem die Russen reisen, wird versiegelt und gilt als „exterritoriales Gebiet“. Der übernervöse Lenin muss sich ganz in die Hand seines Feindes Kaiser Wilhelm II. begeben. Er ist der Vetter des Zaren, den Lenin vom Thron stürzen will. Man gelangt ohne Verzögerungen nach Sankt Petersburg. Alexandra Kollontai, leidenschaftliche Bewunderin Lenins und überaus geschickt im Organisieren von Geldern, ist letztlich dafür verantwortlich, dass der Zug gemietet wird, der Lenin im versiegelten Waggon aus dem Schweizer Exil über die deutschen Grenzen hinweg nach Russland bringt. Am Finnischen Bahnhof erwartet sie ihn am 11. April 1917 mit einem Blumenstrauß in der Hand, hinter ihr eine jubelnde Menge.
Die Regierung, die aus der Oktoberrevolution hervorgeht, besetzt Lenin mit seinen Männern. Und seinen Frauen. Seine Schwester Maria nimmt die strategisch wichtige Position in der Redaktion der Prawda ein. Inessa übernimmt die Leitung des Sowjet, des sozialistischen Rates, von Moskau. Die neue Regierung wird aus Volkskommissaren gebildet, die die Funktion von Ministern erfüllen. Alexandra Kollontai wird Ministerin für Sozialfürsorge. Inessa, die diesen Posten für sich reklamierte, versteht nicht, weshalb sie durch Kollontai ersetzt wird, und vermutet ein Verhältnis der beiden. Alexandra wird ihre Erinnerungen zu einem Roman verarbeiten: Wege der Liebe . Handelt es sich dabei tatsächlich nur um eine fiktionale Liebe? Oder ist die große Leidenschaft, die sie in ihrem Buch beschreibt, in Wirklichkeit ihre Liebesgeschichte mit Lenin? Jedenfalls könnte die Handlung des Romans durchaus auf solch einer Beziehung gründen. Denn tatsächlich verbringt Kollontai 1915 in der Schweiz fast ein Jahr lang ihre Zeit hauptsächlich mit Lenin. Und schließlich haben beide promiskuitive Erfahrung.
Die verärgerte Inessa reist nach Puschkino ab. Alexander, vor dem Gesetz immer noch ihr Ehegatte, empfängt sie mit offenen Armen.
Im September 1918 schießt eine weißrussische Revolutionärin auf Lenin, der nur knapp dem Tod entgeht. Während seiner Rekonvaleszenz wacht Inessa an seiner Seite und lässt Alexander einmal mehr im Stich. Die Geschichte wiederholt sich. Nadja, Inessa und Wladimir bilden eine Einheit, aus deren Zusammenhalt die Sowjetunion hervorgeht. Vom Kreml aus lenken sie den ersten kommunistischen Staat der Welt. Und doch ist es weder die gesundheitlich angegriffene Nadja noch der vom Attentat geschwächte Lenin, die als Erste von der gemeinsamen Bühne abtreten.
Anfang 1920 zeigen sich bei Inessa Erschöpfungserscheinungen vom Leben im Kreml und den politischen Funktionen, die sie ausfüllt. Sie ist im Bolschewistischen Zentralkomitee zuständig für die Lage der Bäuerinnen. In dem riesigen Staat, in dem immer noch drei Viertel der Bevölkerung auf dem Land leben, ist dies eine kolossale Aufgabe. Lenin verdonnert sie zu einem Zwangsurlaub in Sotschi am Schwarzen Meer. Dort soll sie sich „ausruhen“. Kaum angekommen, fängt sie an, Tagebuch zu führen: „Ich werde jeden Tag schreiben, auch wenn ich einen schweren Kopf habe. Ich komme mir vor, als hätte ich die Rolle eines Magens übernommen, der Tag für Tag verdaut.“ Wieder überfällt sie die düstere Stimmung, die sie schon in Paris quälte: „Ich muss an Lazarus denken, der von den Toten auferstanden ist und immer noch die Zeichen des Todes an sich trug, die die Menschen erschreckten. Auch ich komme mir vor wie eine lebende Tote, und das ist ein schreckliches Gefühl.“ [25]
Von der Liebe zu einem Mann ausgebrannt, der nur für seine Sache lebte, hinterlässt Inessa eine letzte Nachricht: „Nun bin ich gleichgültig gegenüber aller Welt geworden. Alles langweilt mich. Herzliche Gefühle hege ich nur noch für die Kinder und für W. I. Von ihnen abgesehen fühle ich
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