Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
du willst. Du bist sehr eifrig. Aber denk daran: Immer die Geduld wahren.»
Edward sah, wie Ralph gehorsam nickte.
«Ich erwarte deinen Bericht», schloss er, wandte sich um und kehrte zu seinem Tisch, Letizia Buonaparte und ihrem Sohn zurück.
Ralph zog den Wagen in den Aufzug und fuhr nach unten.
Weniger als eine Minute danach kam der zweite Wachmann herein.
Perfektes Timing.
J ennifer Holmgren gähnte.
Nicht vor Müdigkeit und auch nicht aus Sauerstoffmangel. Sie war einfach nur schrecklich gelangweilt, als sie dort auf dem Rasen stand, der zum Lejondals-See hinabführte. Vor sich hatte sie nicht nur den Leiter des Polizeieinsatzes, der gerade eine kurze Einführung gab, sondern auch mehrere Kollegen, von denen die meisten genau wie sie aus Sigtuna stammten. Jennifer unterdrückte ein weiteres Gähnen und wiederholte im Kopf, was sie sich merken musste.
Lukas Ryd.
Sechs Jahre.
Seit einigen Stunden verschwunden. Drei, hoffte Mutter Ryd. Länger, befürchtete der Vater. Jedenfalls war Lukas weder in seinem Bett noch irgendwo sonst im Haus auffindbar gewesen. Vor knapp drei Stunden. Sie hatten sich gegen halb eins schlafen gelegt, sodass der Junge im Prinzip schon die ganze Nacht über weg sein konnte. Niemand wusste es genau. Als sie aufgewacht waren, waren alle Türen geschlossen gewesen. Geschlossen, aber nicht abgeschlossen.
Jennifer spürte, wie sie in ihrer Uniform allmählich zu schwitzen begann. Die Sonne brannte ihr unbarmherzig auf den Rücken. Der Junge war ihr erster Vermisstenfall. Nach vier Semestern auf der Polizeihochschule war sie nun seit zwei Monaten Polizeianwärterin in Sigtuna, einer Stadt, die nicht gerade der kriminelle Nabel der Welt war. Aber es gab genug zu tun, so war es nicht. Sie hatte sich die Statistiken angesehen. 2009 war die Kriminalitätsrate in Sigtuna sogar höher gewesen als in vergleichbaren anderen Kommunen. 19579 gemeldete Verbrechen auf 100000 Einwohner. Der Durchschnitt lag bei 10436. Trotzdem erschien ihr die Stadt aus Sicht einer Polizistin nicht gerade als der spannendste Ort Schwedens. Und Jennifer lechzte nach Spannung. Freund und Helfer in allen Ehren, das waren gute und wichtige Funktionen, aber sie war nicht in erster Linie deshalb Polizistin geworden. Als sie sich bei der Polizeihochschule beworben hatte, hatte sie ihre Hoffnung auf etwas Aufregung und Spannung heruntergespielt und einen reiferen und realistischeren Blick auf den Beruf an den Tag gelegt. Doch schon in der Ausbildung hatte sich gezeigt, dass sie die beste Leistung erbrachte, wenn es darum ging, körperlich Anstrengendes zu leisten, sogar beim Nahkampf oder wenn sie die Waffe einsetzen mussten. Seit sie nach Sigtuna gekommen war, hatte sie diese Fähigkeiten allerdings äußerst selten zeigen können. Sie hatte einen Raser in der Tempo-30-Zone vor einer Schule gestoppt. Sie hatte Anzeigen wegen Einbruchs, Diebstahls, Sachbeschädigung, und geringfügiger Körperverletzung aufgenommen. Sie hatte Alkoholkontrollen auf der Europastraße 263 durchgeführt, an der Rezeption gesessen und mehr Pässe ausgestellt, als sie es je für möglich gehalten hatte.
Polizeiarbeit – ja.
Spannung und Aufregung – weniger.
Die letzten zwei Monate waren ihr wie zwei Jahre vorgekommen. Deshalb war sie zunächst ziemlich aufgekratzt gewesen, als sie von Lukas Ryd gehört hatte. Ein kleiner Junge, verschwunden. Er konnte entführt worden sein. Gekidnappt. Diese stille Hoffnung hatte sie gehegt, ehe sie ankam und die näheren Umstände erfuhr.
Lukas’ kleiner Bärenrucksack war weg. Außerdem fehlten zwei Dosen Cola, die sich die Familie fürs Wochenende aufgehoben hatte, sowie eine Tüte Buchstabenkekse.
Der Junge war von zu Hause ausgebüxt – oder vielleicht nicht einmal das.
Wahrscheinlich war er aufgewacht, hatte Lust auf ein spontanes Picknick gehabt und seine Eltern nicht wecken wollen.
So gewöhnlich. So banal. So öde.
Jennifer Holmgren wusste, dass sie vermutlich die falsche Einstellung hatte, um eine richtig gute Polizistin zu werden – aber bitte! Der Junge war schlicht und einfach von zu Hause weggelaufen. Vermutlich hatte sich der Knirps irgendwo hinter einen umgefallen Baumstamm gesetzt und knusperte seinen Proviant in sich hinein, bis es ihm zu kalt, zu langweilig oder zu dunkel wurde, und dann würde er irgendwann aus seinem Versteck hervorkrabbeln und nach Hause kommen.
Vorausgesetzt, er verlief sich dabei nicht. Die Gegend war reich an Wäldern, doch zu dieser Jahreszeit trieb
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