Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Fähigkeiten weiter ausbauen. Seine Mutter hatte sich um seine Kleidung gesorgt. Keinem der beiden hatte seine Kletterei also gefallen, weshalb er oft geklettert war. Sooft er konnte. Und auch jetzt genoss er wieder das Gefühl, etwas Waghalsiges und Verbotenes zu tun.
Nach einiger Zeit sah er nach unten und begriff, dass es ihm schon von dieser Höhe aus schwerfallen würde, wieder auf den Boden zu gelangen. Jedenfalls unbeschadet. Gelenkig und flink waren nicht mehr unbedingt die ersten Eigenschaften, die man mit Sebastian in Verbindung brachte. Kaum war ihm diese schwindel- und furchterregende Einsicht gekommen, verhedderte sich sein Jackett in einem spitz abstehenden Zweig, und er verlor das Gleichgewicht. Und plötzlich war der kleine Junge auf dem Weg zu neuen Abenteuern wieder zu einem unsportlichen Mann mittleren Alters geworden, der mit rasch ansteigendem Milchsäurepegel in den Armen in einigen Metern Höhe von einem Baum baumelte. Sebastian sah sich gezwungen, sowohl Jungenabenteuer als auch Jackett aufzugeben und sich mühsam zum Stamm vorzutasten, an dem er nach unten glitt oder besser unkontrolliert rutschte, bis ihn die unteren Zweige ziemlich schmerzhaft bremsten. Auf zitternden Beinen erreichte er schließlich wieder sicheren Boden, mit einem zerrissenen Jackett und langen, brennenden Schürfwunden an den Beininnenseiten.
Nach diesem Erlebnis begnügte er sich damit, auf dem gewohnten Fels zu stehen und Vanjas Wohnung zu beobachten.
Das war ausreichend.
Ausreichend geistesgestört.
Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Vanja in dem Moment hinausgeschaut und ihn in einem Baum vor ihrem Fenster hängen sehen hätte.
Von außen machte ihre Wohnung einen gemütlichen Eindruck. Moderne Gardinen. Rote und weiße Blumen auf dem Fensterbrett. Fensterlämpchen mit Dimmer. Ein kleiner Balkon nach Nordosten, auf dem sie an schönen Tagen morgens zwischen 7.20 und 7.45 Uhr ihren ersten Kaffee trank. Dann war Sebastian jedes Mal gezwungen, sich hinter einige Wacholdersträucher zu ducken, mit denen er inzwischen so vertraut war, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Seine Tochter war ganz eindeutig eine Frau mit festen Routinen. Sie stand jeden Morgen um sieben Uhr auf, am Wochenende erst gegen neun. Dienstags und donnerstags ging sie vor der Arbeit joggen. Sechs Kilometer. An Sonntagen lief sie die doppelte Strecke. Oft arbeitete sie lange und kam nicht vor acht Uhr abends nach Hause. Sie ging selten aus und wenn, dann nur etwas trinken. Ein-, höchstens zweimal im Monat, mit ein paar Freundinnen. Soweit Sebastian beobachten konnte, hatte sie keinen Freund. Jeden Donnerstag aß sie bei ihren Eltern in der Storskärsgatan zu Abend. Sie spazierte allein dorthin, aber auf dem Rückweg wurde sie meistens von Valdemar Lithner begleitet.
Dem Papa.
Sie standen sich sehr nahe, das konnte man schon von weitem sehen, wenn sie daherspaziert kamen. Sie lachten viel zusammen, und alle Spaziergänge wurden mit einer innigen Umarmung beendet. Bevor sie ins Haus ging, bekam sie einen Kuss auf die Stirn. Immer. Das war die Signatur ihrer Beziehung. Es hätte ein schönes Bild sein können, wenn man von einer Sache absah: Ihr richtiger Vater stand ein Stück entfernt und schaute zu. Diese Momente schmerzten Sebastian am meisten. Es war ein merkwürdiger Schmerz.
Schlimmer als Eifersucht.
Größer als Eifersucht.
Schwerer zu ertragen als alles andere.
Es war der Schmerz über ein Leben, das er nie gelebt hatte.
Vor vierzehn Tagen, als Sebastian Vanja und Valdemar in einem italienischen Restaurant in der Nähe vom Polizeipräsidium beim Essen beobachtet hatte, war ihm eine Idee gekommen. Es war nicht gerade ein sympathischer Einfall gewesen. Ganz im Gegenteil. Aber er hatte sich gut angefühlt. Zumindest in genau diesem Moment.
Mit der Zeit hatte sich seine Eifersucht auf Valdemar zunehmend in eine Wut verwandelt, die sich inzwischen nur noch als Hass beschreiben ließ. Hass auf diesen großen, schlanken, stilvollen Mann, der Sebastians Tochter so nahe sein durfte. Seiner Tochter! Eigentlich würden Sebastian diese Umarmungen, diese Zärtlichkeit zugestehen. Er müsste von ihr geliebt werden.
Er!
Niemand sonst!
Sebastian hatte schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, sich zu erkennen zu geben, mit ihr über alles zu sprechen, sich aber stets in letzter Sekunde dagegen entschieden. Insgeheim hegte er den Gedanken, Vanja auf irgendeine Weise näherzukommen, um ihr dann später, wenn sie eine Form von
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