Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Stefan vor dessen Praxis abgefangen. Wie ein Gespenst aus der Vergangenheit. Dem müden Blick und der zerknitterten Kleidung nach zu urteilen hatte er die ganze Nacht dort gewartet. Schon damals war er nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Er hatte seine Frau und seine Tochter bei dem Tsunami verloren und sich seither in einer stetigen Abwärtsspirale befunden. Seine Erfolge, Vorlesungen und Lesereisen gehörten der Vergangenheit an und waren von quälenden Gedanken, Apathie und einer zunehmenden Sexsucht abgelöst worden. Er habe sonst niemanden, zu dem er gehen könne, hatte Sebastian erklärt. Niemanden. Also hatten sie begonnen, Termine zu vereinbaren. Immer zu Sebastians Prämissen. Zwischen den einzelnen Sitzungen vergingen mitunter Monate, manchmal aber auch nur wenige Tage. Aber sie brachen den Kontakt nie ganz ab.
«Was, glaubst du, würde Vanja denken? Wenn sie davon erfahren würde?»
«Sie würde sagen, dass ich verrückt bin. Sie würde mich bei der Polizei anzeigen und mich hassen.» Sebastian verstummte kurz, ehe er fortfuhr. «Das weiß ich ja, aber … ich kann nur noch an sie denken … die ganze Zeit über …»
Sebastians Stimme wurde brüchig, und das Ende des Satzes flüsterte er beinahe. Er hasste es, plötzlich so kraftlos zu sein, von einem Gefühl übermannt zu werden und nur noch mit einem Bruchteil seines Stimmvermögens sprechen zu können.
«Das ist vollkommen neu. Ich bin es gewohnt, die Kontrolle zu haben», brachte er wispernd hervor.
«Wirklich? Du meinst also, du hättest dich unter Kontrolle gehabt, bevor du erfuhrst, dass sie deine Tochter ist? Also war es dein brillanter Plan, dein Leben auf kontrollierte Weise vollkommen zu ruinieren? Na dann herzlichen Glückwunsch, das ist dir ja wirklich gelungen.»
Sebastian sah seinen Therapeuten mit leerem Blick an und antwortete mit etwas mehr Kraft in der Stimme: «Es ist ein Wunder, dass man dir nicht längst deine Approbation entzogen hat.»
Stefan beugte sich vor. Das war das Beste daran, Sebastian als Patienten zu haben. Man konnte die Samthandschuhe ausziehen und hart zuschlagen.
«Du willst nicht, dass ich dich schone. Dein ganzes Leben lang haben dich immer alle Leute gewähren lassen. Ich tue es nicht. Du hast deine Familie bei dem Tsunami verloren, und du bist vollkommen abgestürzt.»
«Deshalb brauche ich Vanja doch.»
«Aber braucht sie dich?»
«Nein.»
«Sie hat schon einen Vater, oder etwa nicht?»
«Ja.»
«Und wer, glaubst du, würde davon profitieren, dass du es erzählst?»
Sebastian schwieg. Er kannte die Antwort, wollte sie aber nicht laut aussprechen. Doch Stefan saß unverwandt nach vorn gebeugt da, auffordernd, und antwortete an Sebastians Stelle.
«Niemand. Nicht du, nicht sie, niemand.»
Damit lehnte er sich wieder zurück. Diesmal war sein Blick freundlicher. Persönlicher.
«Sag es ihr nicht, Sebastian.» Auch seine Stimme klang jetzt wärmer. Gegenwärtiger. «Du musst ein eigenes Leben haben, bevor du Teil eines anderen werden kannst. Hör auf, sie zu verfolgen. Nutze deine Zeit lieber dafür, wieder auf die Füße zu kommen. Diese Besessenheit führt dich nur auf Abwege. Leg dir lieber ein eigenes Leben zu. Und wenn du das geschafft hast, können wir über den nächsten Schritt diskutieren.»
Sebastian nickte. Stefan hatte natürlich recht. Man sollte ein eigenes Leben haben, bevor man es mit jemandem teilen konnte. Dieser langweilig-schlaue Stefan in seinem langweilig-heimeligen Behandlungszimmer hatte recht. Das ärgerte Sebastian maßlos. Zu glauben, dass Trolles Einsatz die richtige Lösung war, war vielleicht falsch, aber es war leichter. Leichter, als sich ein eigenes Leben zuzulegen. Und auf jeden Fall ein unterhaltsamerer Gedanke.
Stefan unterbrach seine Überlegungen. «Ich leite eine Gesprächsgruppe. Wir treffen uns zweimal in der Woche. Heute Abend und morgen. Ich finde, du solltest daran teilnehmen.»
Zum ersten Mal sah Sebastian sein Gegenüber verwundert an. Wie konnte er auch nur im Entferntesten daran denken?
«Ich? In einer Gesprächsgruppe?»
«Ja, da sind Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht richtig weiterkommen in ihrem Leben. Klingt das für dich irgendwie bekannt?»
In seinem tiefsten Inneren war Sebastian froh, dass Stefan ihn mit etwas so Banalem wie einer Gruppentherapie konfrontierte. Das führte ihn einige Schritte von seinen tiefschwarzen Gedanken weg und erfüllte ihn mit einer befreiend unkomplizierten Irritation.
«Das klingt
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