Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Sebastian vor ihm stand.
«Ich will kein Teilchen.»
Der Jüngling an der Kasse sah Sebastian forschend an, dann lächelte er vielsagend und verständnisvoll.
«Schwere Nacht gehabt?»
«Das geht dich einen Scheißdreck an.»
Sebastian nahm seinen Kaffee und ging. Als er den Laden verlassen hatte, bog er nach links ab. Es war ein gutes Stück Fußweg. Über die Liljeholmbro, dann die Hornsgatan entlang bis Slussen, über die Skeppsbro und die Strömbro, die Stallgatan hinunter und schließlich auf dem Strandvägen bis nach Hause. Er würde vollkommen durchgeschwitzt dort ankommen, aber er hatte keine Lust, schon wieder die U-Bahn zu nehmen. Wenn er die Nase voll hatte, konnte er immer noch ein Taxi anhalten.
Auf der Hornsgatan ging sein Schnürsenkel auf. Sebastian stellte seinen Kaffeebecher auf einem Stromkasten ab, bückte sich und band ihn wieder zu. Als er sich anschließend wieder aufrichtete und seinen Kaffee wieder nahm, sah er sein eigenes Spiegelbild im leicht rußigen Schaufenster einer Hemdboutique. Die Frage nach einer schweren Nacht war durchaus berechtigt gewesen, wie er jetzt sehen konnte. An diesem Morgen sah er älter aus als seine knapp fünfzig Jahre. Verbrauchter. Das etwas zu lange Haar klebte an seiner verschwitzten Stirn. Er war unrasiert, müde, hohläugig. Um fünf Uhr morgens allein mit einem Pappbecher lauwarmem Kaffee. Auf dem Weg nach Haus von einer weiteren Nacht mit einer fremden Frau. Unterwegs wohin? Tja, wohin wollte er eigentlich? Nach Hause. Aber was gab es da? Neben der Küche und dem Bad war das Gästezimmer der einzige Raum in seiner herrschaftlichen Wohnung in der Grev Magnigatan, den er zurzeit bewohnte. Vier der Zimmer waren ungenutzt. Unbewohnt und still in einem ständigen Halbdunkel hinter heruntergelassenen Jalousien. Wohin war er also unterwegs? Wohin war er seit dem zweiten Weihnachtstag 2004 gegangen? Die einfache Antwort lautete: nirgendwohin. Er hatte sich eingeredet, dass er damit zufrieden war. Dass es genauso war, wie er es haben wollte, dass es seine bewusste Wahl war, das Leben passiv an sich vorbeiziehen zu sehen, als wäre es eines der Zimmer in seiner Wohnung, im ständigen Halbdunkel.
Er wusste, warum. Er hatte Angst davor, dass er gezwungen wäre, Sabine aufzugeben, um wieder zurückzukehren. Und Lily. Dass er seine Tochter und seine Frau vergessen müsste, damit er sein Leben weiterleben könnte. Das wollte er nicht. Er wusste, dass es vielen Menschen, ja sogar den meisten, gelang, nach dem Verlust naher Angehöriger wieder ins Leben zurückzufinden. Weitermachen zu können. Das Andenken an den Toten versöhnte sich irgendwann mit der Gegenwart. Das Leben ging weiter, auch wenn eine einzelne Scherbe fehlte – es war nicht völlig zerbrochen wie bei ihm. Er wusste das. Aber er hatte bisher ganz einfach nicht den Willen gehabt, es zu reparieren. Er hatte es nicht einmal versucht.
Vanja hatte jedoch wieder einen Schimmer von Sinn in seinen Alltag gebracht, und nun hatte er es gewagt, die ersten Schritte in Richtung einer Veränderung zu unternehmen. Wenn Trolle seinen Auftrag erfolgreich ausführte, würde es Sebastian gelingen, einen Keil zwischen Valdemar und seine Tochter zu treiben. Die Frage war nur, wie es danach weitergehen sollte. Wenn es ihm gelang, Vanjas Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern und sie in eine Krise zu stürzen, müsste er dann nicht für sie da sein, um sie wieder aufzufangen? Am besten wäre es, wenn er schon vor der Katastrophe zu einem Teil ihres Alltags würde. Ein verhasster Teil möglicherweise, aber dennoch einer, der ihr nahe genug war, um ganz selbstverständlich da sein zu können, wenn sie es brauchte.
Das konnte ihm gleich in zweifacher Hinsicht nützen. Wenn er ein Teil ihres Alltags würde.
Ihr Alltag war die Reichsmordkommission. Sebastians alter Arbeitsplatz. Der Ort, an dem er früher einmal ein Gefühl von Zugehörigkeit erlebt hatte. Etwas beigetragen hatte. Gearbeitet hatte. Ein Leben gehabt.
Man musste ein eigenes Leben haben, bevor man Teil eines anderen werden konnte.
Um kurz nach fünf am Morgen, verschwitzt, müde und leer wie er war, ergaben plötzlich alle Teile ein sinnvolles Ganzes, und er fasste einen Entschluss: Er wollte Vanja nahe sein, und er wollte sich ein eigenes Leben zulegen.
Alles auf einmal.
Noch ein letzter Blick in das dunkle Schaufenster, und dann würde er alles ändern.
T orkel fuhr auf seinen Parkplatz in der Garage unter dem Polizeipräsidium, stellte den Motor ab
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