Die Frauen von Clare Valley
gebogenen Strohhalmen, Schirmchen und so viel Obst, dass es mehr Fruchtsalat als Getränk war. Sie hatten einen Toast ausgebracht, auf Anna, auf sich und alle daheim in Australien, und dann hatte ihr Dad ihr erlaubt, von seinem Handy aus im Motel anzurufen.
Die ganze Familie war da gewesen. Sie hatte mit Lola und ihrer Oma und ihrem Opa und ihren Tanten Carrie und Bett gesprochen. Sie hatten geweint und gelacht, so wie immer, wenn sie über Anna redeten. Ellen hatte auch mit ihrem kleinen Cousin und ihrer kleinen Cousine gesprochen – na ja, nicht wirklich, denn da waren Betts Zwillinge noch gar nicht auf der Welt, aber sie hatte darauf bestanden, dass Bett das Telefon an ihren Bauch hielt, und dann hatte Ellen ihnen durch das Telefon etwas zugerufen.
Ein halbes Jahr später war sie mit ihrem Dad nach Adelaide geflogen und von dort ins Valley gefahren, um alle wiederzusehen und Zachary und Yvette zu bestaunen. An jenem Tag, beim Anblick von Lola, dem Motel, ihren Großeltern, waren die Erinnerungen mit Macht zurückgekehrt. Ellen hatte nie wieder abreisen wollen. Lola hatte sie mit zu ihrer Bank genommen und mit ihr auf ihre wundervolle Art gesprochen und ihr versichert, es spiele keine Rolle, dass Ellen auf der anderen Seite der Welt lebte, weil sie alle ständig aneinander dachten, mehrmals am Tag, manchmal sogar bei Nacht, und all diese Gedankenwellen einfach durch den Himmel rasten. Dazu brauchten sie kein Telefon, keine Satelliten oder Tiefseekabel. So etwas war übersinnlich, und jedes Mal, wenn es Ellen irgendwo juckte, sie nieste, Schluckauf hatte oder ein Auge zuckte, lag das daran, weil in dem Moment, weit hinter den Meeren und den vielen Ländern, Lola, Bett oder Carrie oder gar sie alle drei an Ellen dachten. Ellen war damals schon zu alt gewesen, um Lolas Worte für bare Münze zu nehmen, und dennoch, wieder in Hongkong, war jedes Niesen, jeder Schluckauf ein kleiner magischer Moment … Vielleicht war da ja doch etwas Wahres dran.
Es klopfte an die Tür.
Schon wieder ihr Vater. »Ellen, Denise ist da. Mit ihrer Tochter.«
In der Sekunde war es mit dem Schämen vorbei. »Ist mir egal! Hau ab!«
»Ellen, bitte. Es tut mir leid. Bitte.«
»Nein!«
Lola wäre über so ein Verhalten entsetzt gewesen, doch das war Ellen in dem Moment ebenfalls egal. Sie empfand nun einmal so. Sie war wütend, traurig, einsam und alles zugleich. Und so voller Sehnsucht, sie hatte solche Sehnsucht nach ihrer Mum. Nach Lola. Nach ihrer Familie am anderen Ende der Welt, Tausende Kilometer entfernt, während sie in Hongkong hocken musste, mit einem gemeinen Vater und so einer widerlichen, blöden Ziege. Das war nicht nur eine Ziege, das war eine richtige Zicke , mit ihrem falschen Lächeln und ihren falschen Nägeln und der ganzen Falschheit, mit der sie versuchte, sich in ihr Leben zu drängen. Tja, daraus würde nichts. Nicht, solange Ellen da war. Nie im Leben wäre sie nett zu dieser Denise. Sie hatte eine Mutter, die beste, liebste Mutter auf der Welt, sie brauchte keine andere.
Sie zog sich das Kissen über den Kopf, um die Stimme ihres Vaters zu ersticken. Nach einer Weile gab er auf. Ellen kniff die Augen zusammen und versuchte, was Lola ihr geraten hatte – sich auf schöne Gedanken und schöne Erinnerungen zu konzentrieren. Ellen kämpfte gegen die Tränen an, gegen die Stimmen und das Gemurmel aus dem Wohnzimmer, die selbst noch durch das Kissen drangen. Sie bemühte sich so sehr, nur an schöne Dinge zu denken – an Lola, Tante Bett, die lustigen Zwillinge, Carrie mit ihrer lärmenden, fröhlichen Familie. Es nützte nichts. Die Sehnsucht danach, bei ihnen allen zu sein, mit ihnen zu lachen, zu scherzen und sich aufgehoben, glücklich und geliebt zu fühlen, wurde nur noch stärker. Die Sehnsucht nach allem, was ihr fehlte.
Kapitel 4
Carrie, zu Hause in ihrem umgebauten Farmhaus im Süden von Clare, wünschte sich, sie hätte Matthew nie getroffen, nie geheiratet und vor allem nie drei Kinder mit diesem Mann bekommen.
»Delia, hör sofort auf, deine Schwester zu hauen. Freya, mach den Fernseher leise, George schläft. Und, Delia, räum bitte deine Spielsachen weg. Das hab ich dir schon fünf Mal gesagt.«
»Vier.«
»Was?«
»Entschuldigung, nicht was. Vier Mal. Du hast es vier Mal gesagt, nicht fünf Mal.«
»Und wenn es sein muss, sag ich es auch fünfzig Mal. Also. Los. Jetzt.«
»Warum bist du immer so böse?«
»Warum seid ihr immer so ungezogen?«
»Weil wir Kinder sind. Kinder sind
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