Die Frauen von Clare Valley
Um seine Klienten wurde er beneidet, seine Agentur versank in Arbeit. Doch einer Zwölfjährigen war er nicht gewachsen, selbst wenn es seine wunderbare Tochter war. Was hatte ihm seine Mutter jüngst mit auf den Weg gegeben? Sieh es doch als Kampagne, Junge. Mit jedem Schritt, mit jeder Schlacht, geht es Richtung Waffenstillstand. Selbst wenn er die letzte Schlacht gewonnen hätte, wäre das ein vergeblicher Sieg.
Es klingelte. Er rang sich ein Lächeln ab, ging zur Tür und überlegte unterdessen, wie er Denise den jüngsten Rückschlag mit seiner Tochter verkaufen sollte.
Ellen hingegen wusste nicht, ob sie mit dem Weinen aufhören oder noch lauter heulen sollte. Ob sie sich darüber freuen sollte, dass sie ihren Vater so aus der Fassung, ihn sogar dazu gebracht hatte, sich bei ihr zu entschuldigen, oder ob sie sich dafür schämen sollte. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte. In ihr brodelte eine solche Menge an Gefühlen, an nicht beherrschbaren Gefühlen, es war wie ein Vulkan, der immer wieder ohne Vorwarnung ausbrach. Und immer ging es gegen ihren Vater. Sie legte das Foto ihrer Mutter – es war ein Abzug des Porträts aus dem Wohnzimmer – auf ihr Bett und fuhr sanft über das Glas. Ihre Mutter lächelte zu ihr auf. Ellen hatte nur Fotos aufgestellt, auf denen Anna lächelte. Sie wollte ihre Mutter glücklich in Erinnerung behalten. Manchmal aber, mitten in der Nacht, stiegen andere Bilder in ihr auf. Wenn sie an die Spiele dachte, die sie gespielt hatten. Geschichten, die ihre Mutter ihr vorgelesen hatte. Dann sah sie, so sehr sie sich auch bemühte, das alles zu verdrängen, ihre Mutter als Kranke vor sich, in den letzten Wochen ihres Lebens. Ellen erinnerte sich an alles. Es hatte mit dem Flüstern angefangen. Auf einmal hatten alle nur noch gewispert und geschwiegen, sobald Ellen in die Nähe kam. Dann, eines Tages, waren ihr Vater und Tante Bett mit ihr zu ihrem und Lolas Lieblingsplatz gegangen, der Bank vor dem Motel, mit Blick auf den Weinberg, und da hatten sie ihr alles erzählt. Dass ihre Mutter sehr krank sei und nicht mehr gesund würde und dies eine sehr kostbare und besondere Zeit sei.
Ellen konnte nicht sagen, ob sie sich an die Beerdigung selbst erinnerte, oder ob sie nachträgliche Vorstellungen mit immer neuen Details davon im Kopf hatte. In den ersten beiden Jahren nach Annas Tod waren Ellen und ihr Vater an Annas Todestag ins Clare Valley gefahren. Im dritten Jahr nicht. Ellen hatte eine schwere Angina gehabt, und so waren sie daheim in Singapur geblieben. Im vierten Jahr hatten sie mitten im Umzug nach Hongkong gesteckt. In jener Zeit hatte es zahlreiche Gespräche zwischen Lola und Glenn und ebenso viele zwischen Lola und Ellen gegeben.
»Denkst du jeden Tag an deine Mum, mein Darling?«, hatte Lola gefragt.
»Natürlich«, hatte Ellen geantwortet.
»Wo?«
»Wo ich gerade bin. In der Schule, zu Hause, im Park.«
»Siehst du, Darling. Deine Gedanken sind in dir, egal, was um dich herum geschieht. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du dir eine Zeremonie für Anna überlegst, die du überall abhalten kannst, und dich von der Vorstellung trennst, dass das nur hier geschehen kann, an ihrem Grab oder im Motel, wo sie gestorben ist.«
Ellen war froh, dass ihre Urgroßmutter keine Angst vor Worten wie »Grab« oder »gestorben« hatte. Sie hatte schon zu viele seltsame Ausdrücke gehört. Verschieden. Im Himmel. Bei ihrem Schöpfer. An ihrem letzten Ruheort. Lola hatte ihr auch vorsichtig erklärt, dass ihrer Meinung nach Anna sowieso sehr, sehr fern vom Motel und Clare Valley sei. Teil des Himmels, der Sterne, des Mondes sei. »Ist das nicht schön, Ellen? Deine Mum ist da, wo du sie brauchst, wo du bist, sie ist immer in deinen Gedanken.«
In jenem vierten Jahr hatten Ellen und ihr Dad eine eigene Zeremonie abgehalten, in Hongkong, weit oben in dem Hotel, in dem sie bis zur Fertigstellung ihres Apartments gewohnt hatten, mit Blick über den Victoria Harbour. Um sie herum hatten Wolkenkratzer aufgeragt, zu ihren Füßen hatte ein solches Gewimmel aus Fähren, Frachtschiffen und kleinen Booten geherrscht, dass Ellen erstaunt gefragt hatte, wieso sie nicht ständig ineinanderfuhren. Sie hatten an einem Tisch am Fenster gesessen, so weit oben, dass Ellen jedes Mal, wenn sie nach unten gesehen hatte, ein wenig übel geworden war. Ihr Dad hatte zwei Cocktails bestellt, einen mit Champagner, Annas Lieblingsgetränk, und einen aus drei verschiedenen Säften, mit vier
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