Die Frauen von der Beacon Street
und vielleicht war dann immer noch genug Zeit, hinterher zum Spiel zu gehen. Mensch, vielleicht konnte er ja Ben überreden mitzukommen. Bei diesem Gedanken verzog sich Harlans Mund zu einem spitzbübischen Lächeln, und er warf die Haare in den Nacken.
» Na gut « , sagte er. » Aber wenn ich gewusst hätte, dass ich heute eine so wichtige Verabredung habe, hätte ich mich mehr herausgeputzt, bevor ich herunterkam. «
Ohne seinen Schraubgriff zu lockern, geleitete Lan Allston seinen Sohn aus dem Esszimmer, durch die Diele und zu dem Garderobenständer hinüber, der neben der Eingangstür stand.
» Vorsicht, Papa « , protestierte Harlan, während Lan Regenzeug aus dem wirren Kleiderhaufen heraussuchte. » Meine Rippe ist immer noch sehr empfindlich. «
Aus dem Inneren des vorderen Wohnzimmers hörte Harlan ein melodisches Kichern, von dem er wusste, dass es zu Dovie gehörte. Er fragte sich, was Dovie und seine Schwester wohl für Geheimnisse miteinander hatten. Fast beneidete Harlan sie um das Bündnis, das sie offenbar geschlossen hatten, um das spätnächtliche Kichern und Flüstern. Ganz ähnlich hatte er auch empfunden, wenn Sibyl und Eulah sich nach Tanzveranstaltungen in ihrem Waschraum einschlossen. Mehr als einmal hatte er das Ohr ans Schlüsselloch gepresst, weil er zu gern gewusst hätte, was für Geheimnisse sie hatten und was sie über die Leute redeten, die sie auf dem Ball getroffen hatten. In jenen Nächten hatte sich Harlan schrecklich allein gefühlt.
» So « , sagte Lan Allston und bürstete mit Entschlossenheit Harlans Schultern ab. » Also dann. Der Wagen setzt mich am Büro ab, dann bringt er dich nach Cambridge. Die Zeit müsste reichen. Komm jetzt. «
Harlan sah in das verwitterte Gesicht seines Vaters und spürte, wie sein Widerstand nachließ.
» Na gut « , meinte er.
Die beiden Allstons setzten sich in Bewegung, einer nach dem anderen. Mit fast identischem Gang traten sie aus der Eingangstür des Hauses an der Beacon Street und in den nachmittäglichen Sprühregen.
Im Esszimmer, in dem nach ihrem abrupten Aufbruch Stille eingetreten war, nahm Mrs Doherty den Teller mit ungegessenem Roastbeef und Kraut vom Tisch, runzelte die Stirn und trug ihn in die Küche zurück.
INTERLUDIUM
Shanghai, Altstadt
8. Juni 1868
L ans Augen rebellierten gegen die Dunkelheit. Er hörte schlurfende Schritte, und seine Nase nahm ein Geruchsgemisch aus altem Holz, feuchter Erde und warmen Körpern auf, die in einer feuchten Nacht eng beieinander kauerten. Offenbar befand er sich in einem lang gezogenen, höhlenartigen Raum mit einem Boden aus gestampftem Lehm, dessen Fenster mit alten Zeitungen verklebt waren. Die Atmosphäre war bedrückend. Obwohl er spürte, dass er von Menschen umgeben war, hörte er niemanden sprechen.
» Sieht nicht besonders aus « , flüsterte ihm Johnny ins Ohr. » Aber du wirst schon sehen. «
Sie standen neben der Tür und warteten. Ein Schweißtropfen kullerte von Lans Haaransatz bis zu seinem Nasenrücken, und er schlüpfte aus seiner Cabanjacke.
Ein vager Umriss schwebte auf sie zu und verwandelte sich kurz darauf in eine winzige junge Frau. Sie war einfach gekleidet und hatte ihr jettschwarzes Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten, die ihr über die Schultern hingen. Sie begrüßte Johnny mit einem Nicken, warf Lannie einen kurzen Blick zu und bedeutete ihnen, ihr zu folgen.
Schlichte Stockbetten säumten die Wände des Raumes, jeweils zwei oder drei übereinander. Auf jedem lag ein Mensch, manche zusammengerollt und eng an die Wand gepresst, die Füße untergezogen, mit knochigen Rücken. Lannie kam an Gesichtern mit schwarzen, tief in den Höhlen liegenden Augen vorbei, das Kinn in die Hände gestützt wie mumifizierte Kinder. Die meisten von ihnen waren in Lumpen gekleidet, und ihren bloßen Füßen sah man deutlich an, dass sie keine Schuhe besaßen.
» Du machst dir Gedanken « , murmelte Johnny. » Aber das musst du nicht. Die Einzigen, die so werden, sind die, die nicht mehr hier weggehen. Wir sind Männer, die sich im Griff haben. Stimmt’s? «
Lannie lachte ein bellendes Lachen, das mehr seinem Unbehagen entsprang als Belustigung.
Man wies ihnen zwei leere Pritschen zu, die übereinanderlagen und mit Matten bedeckt waren, die aber offensichtlich eine Weile nicht mehr gewechselt worden waren. Johnny wuchtete sich in das obere Stockbett hoch und streckte sich seufzend aus. Lannie zögerte. Natürlich hatte er schon oft Wanzen gehabt, diese juckenden
Weitere Kostenlose Bücher