Die Frauen von der Beacon Street
Reisevorbereitungen. Daran, wie neidisch sie gewesen war. Sibyl zog die Stirn in Falten. Es war ihre Pflicht, sich an all das zu erinnern.
» Die Präsenz macht sich mir jetzt bemerkbar « , murmelte Mrs Dee. » Doch die Person bittet darum, dass wir alle die Augen geschlossen halten. Sie ist schüchtern. Geist, wir werden deinem Wunsch nachkommen. Wir wollen einzig und allein, dass du uns erreichst. Ganz gleich, was geschieht, geloben wir, dich zu ehren. «
Ein tiefes Grollen erfüllte den Raum, doch es war nicht näher zu bestimmen. Sibyls Herz schlug schneller.
» Was versuchst du uns zu sagen, Geist? « , fragte Mrs Dee. » Bist du traurig? Oder könnte es sein, dass du wütend bist? «
Sibyl schnappte nach Luft und richtete sich in ihrem Stuhl auf. Sie hatte das Gefühl, der Tisch würde sich unter ihren Händen bewegen.
» O Geist! « , sagte Mrs Dee und hob die Stimme. » Wir spüren deine Wut! Dein Leben war zu früh zu Ende. Wir hören deine Qual! «
Sibyls Herz klopfte laut in ihrer Brust, vor Staunen öffnete sich ihr Mund, und sie musste sich dazu zwingen, die Augen nicht zu öffnen. Denn jetzt drückte der Tisch gegen ihre Handrücken. Plötzlich zuckte er, und dann hob sich ohne weitere Vorwarnung eine Seite des Tisches nach oben und fiel mit einem lauten Klacken wieder zurück. Sibyl schrie auf, auch andere Schreie hallten durch den Raum. Jetzt hob sich die andere Seite des Tisches, ließ die Hände der Séance-Teilnehmer nach oben hüpfen, sank dann wieder nach unten. Zuerst die eine Seite, dann die andere, bis der Tisch schließlich derart wackelte, als wären sie auf einem Schiff auf hoher See. Immer heftiger zuckte der Tisch, und die fest verschränkten Hände der Anwesenden flogen wild auf und ab. Dann, urplötzlich, hörte es auf.
Sibyl spürte, wie ihre Hände vor Schweiß klamm wurden. Rund um den Tisch waren leise Seufzer zu hören, während ihre Tischnachbarn den angehaltenen Atem ausstießen. Die Hände, die Sibyls Hände gepackt hatten, ließen los. Einen Moment lang herrschte Schweigen.
» Vielleicht werden wir nie wissen, wessen Zorn wir gerade zu spüren bekommen haben « , sagte Mrs Dee mit steter und beruhigender Stimme. » Denn die Person ist ohne ein Wort wieder von uns gegangen. Doch wir können sicher sein, dass wir allein dadurch, dass wir ihm erlaubt haben, seinen Unmut mit uns zu teilen, einer leidenden Seele Trost gespendet haben. «
Zufriedenes Gemurmel erhob sich am Tisch, und Sibyl zitterte von dem köstlichen Genuss, den es einem Menschen bereitet, wenn er weiß, dass er der Angst die Stirn geboten hat. Das Wackeln des Tisches war die heftigste Manifestation gewesen, die sie in all den Jahren, in denen sie an Mrs Dees Séancen teilnahm, erlebt hatte. Sie fragte sich, wessen Geist sie da wohl aufgesucht hatte. Doch es war ein Mann gewesen. Helen konnte es nicht gewesen sein, und Eulah auch nicht. Niemals wären sie so zornig gewesen. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit.
» Wir haben in diesem Raum so viel Zeit und Energie aufgebracht, dass ich das deutliche Gefühl habe, es gibt einen weiteren Geist, der mit uns in Kontakt treten möchte. Richten Sie jetzt bitte alle ihren Blick auf die Mitte des Tisches. «
Sibyl gehorchte voller Erregung und lenkte ihren Blick voll und ganz in die schwarze Finsternis vor ihr. Die Hände, die die ihren hielten, packten wieder fester zu.
Es dauerte eine Weile, doch dann schien sich die Beschaffenheit der Dunkelheit vor ihr zu verändern. Sie runzelte die Stirn. Auf einmal glaubte sie, ein winziges Licht zu sehen, das sich sammelte und direkt über dem Tisch schwebte. Es war nicht stark genug, um bis an die Gesichter der Teilnehmer zu reichen, doch es war da. Ganz allmählich verdichtete sich das schwache Licht zu einer undeutlichen Form.
Jeder am Tisch schien es zu sehen, das spürte Sibyl, denn sie hörte die anderen schwerer atmen. Sie schluckte, bemühte sich, den Umriss zu erkennen. Konnte es ein Gesicht sein?
Einmal, vor Jahren, war Helen eines Abends vollkommen atemlos vor Staunen von einer der Séancen von Mrs Dee nach Hause gekommen und hatte begeistert erzählt, sie hätten dort in dem Salon der vollständigen Manifestation eines kleinen Mädchens beigewohnt, das, in Bettlaken gehüllt, eine Weile vor ihren Augen in der Luft geschwebt habe und dann verschwunden sei. Sibyls Vater hatte hinter seiner Zeitung hervor nur ein Schnauben von sich gegeben, doch Sibyl, die damals gerade siebzehn Jahre alt gewesen war und
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