Die Frauen von der Beacon Street
überwältigend. Ihr Herz schlug schneller.
» Lasst uns die Hände zusammenlegen « , kam Mrs Dees Stimme aus der Dunkelheit.
Sibyl streckte beide Hände auf der kühlen Tischplatte aus, die Handflächen nach oben, und spürte, wie andere Hände sie ergriffen, warm und beruhigend. Sie fand das Verschränken der Hände immer seltsam verstörend, als wäre sie an der Erde festgebunden und schwebte zugleich mutterseelenallein in der Leere. Es war ein fast unanständiges Gefühl, dieses Drücken des Fleisches, so intim und doch anonym. Während ihr all diese unangenehmen Gedanken durch den Kopf gingen, merkte sie, wie eine der Hände die ihre unaufgefordert drückte.
» Nun « , fuhr Mrs Dees Stimme fort, fern und entrückt, » möchte ich, dass Sie alle tief Luft holen. « Sie hielt inne. » Und dann wieder ausatmen. In dem Moment, wo Sie spüren, wie die Luft Ihren Körper verlässt, möchte ich, dass Sie sich entspannen. «
Sibyl tat, wie ihr die Stimme geheißen hatte, indem sie die stickige Luft so tief in ihre Lungen zog, wie es nur ging, und sie dann durch die Nase wieder ausstieß. Während sie das tat, begann ihre Kopfhaut zu prickeln und lockerte sich dann, genau dasselbe Gefühl, das sie hatte, wenn sie nach einem langen Tag die Nadeln aus ihrem hochgesteckten Haar zog. Sie holte abermals Luft, behutsamer, und als sie diesmal ausatmete, wich die beengte Atmosphäre des Raumes zurück, und das Prickeln verstärkte sich. Ihr Kopf fiel leicht nach vorne.
» Sehr gut « , sagte die Stimme salbungsvoll, die weit weg klang. » Jetzt möchte ich, dass Sie alle ihren Kopf vollkommen frei machen. Wischen Sie ihn so sauber wie eine Schiefertafel am Ende eines langen, anstrengenden Schultages. «
Sibyl schloss die Augen und stellte sich das Innere ihres Kopfes vor. Sie wischte einmal, zweimal, dreimal. Dann war die Tafel leer, und Sibyl stieß erleichtert den Atem aus.
» Nun « , ordnete die Stimme an, die sich immer weiter an den Rand von Sibyls Bewusstsein schob, » möchte ich, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz auf das Gesicht des Menschen richten, mit dem Sie in Kontakt treten möchten. «
Sibyl konzentrierte sich und versuchte, sich Helens Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Ihre Mutter, die jünger aussah, als sie war, und doch ein wenig zu Hängebäckchen neigte. Doch Sibyl fiel es schwer, die Einzelheiten zu erkennen. Zum Beispiel das Haar ihrer Mutter: Wie hatte sie es bloß getragen? Sibyl konnte sich nur an die hochgesteckten Löckchen erinnern, die ihre Mutter getragen hatte, als Sibyl klein war, doch seither musste sie ihre Frisur bestimmt ein halbes Dutzend Mal geändert haben. War Helen bereits grau geworden, oder war ihr Haar immer noch schwarz? Welche Farbe hatten ihre Augen gehabt? Haselnussbraun? Sibyl wusste, dass sie nicht schwarz wie ihre eigenen gewesen waren. Dann also blau wie die von Eulah? Sibyl runzelte die Stirn und verzog betreten den Mund. Als Halbwüchsige hatte Sibyl immer weniger Lust verspürt, Helen ins Gesicht zu schauen. Was ihr von ihrer Mutter wirklich in Erinnerung geblieben war, das war eine missbilligende Stimme aus der Zimmerecke, die sie jedoch nicht mehr mit einem lebendigen, ausdrucksvollen Gesicht in Zusammenhang brachte.
Aus irgendeinem Grund hatte Eulah einen deutlicheren Eindruck bei Sibyl hinterlassen. Sie war Helen sehr ähnlich gewesen, sowohl in ihren unkonventionellen Ansichten als auch in ihrer Liebe zu schönen Dingen, wodurch sich die Bilder der beiden Frauen in Sibyls Erinnerung überlagerten. Doch der jungen, lebensfrohen Eulah hatte niemals Helens Missbilligung und Sorge gegolten. Sibyl fiel es nicht schwer, sich an die leuchtend blauen Augen ihrer Schwester zu erinnern, an die Grübchen, die sich in ihren Wangen bildeten, wenn sie einen ihrer tollkühnen Gedanken formulierte, selbst Eulahs wilde Locken, die nur in einem eleganten Knoten an ihrem Hinterkopf gezähmt werden konnten, standen ihr deutlich vor Augen. Noch immer hörte sie die weiche Färbung von Eulahs Stimme, die gedämpfter und ernster war, als ihr wildes Aussehen es vermuten ließ. Versuchte Sibyl, sich hingegen Helen vorzustellen, schob sich unweigerlich Eulah vor das Bild. Doch so war es auch gewesen, als sie beide noch am Leben waren: Eulah hatte sich immer vorgedrängt. Sibyl war gerade erst in ihrer vierten Ballsaison, als ihre Mutter sie als hoffnungslosen Fall aufgegeben und stattdessen mit voller Kraft Eulahs Einführung in die Gesellschaft geplant hatte. Eulah, die ihre
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