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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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zum ersten Mal mit der Frage des Todes konfrontiert wurde, war von den Schilderungen ihrer Mutter sehr bewegt gewesen. Und erst Eulah! Damals noch ein kleines Mädchen, hatte sie Helen wieder und wieder gebeten, ihr doch von dem winzigen Ding im Bettlaken zu erzählen. Wie groß war es denn gewesen? Und waren die Laken sehr schmutzig? Hatte ein unsichtbarer Wind um das Kind geweht? Man stelle sich das nur vor – eine vollständige Manifestation aus dem Jenseits, die ihre Mutter mit eigenen Augen gesehen hatte! Sibyls Atem wurde knapper, und sie spähte forschend in die Dunkelheit.
    Staunend erkannte Sibyl jetzt eine Frauenhand. Sie war gänzlich ausgeformt und hing einzeln in der Luft. Ein Aufschrei der Ehrfurcht ging durch die Tischrunde, während die geisterhaft weiße Hand vor ihnen schwebte, von innen von einem unheimlichen Licht erleuchtet. Sibyls Herz machte vor Hoffnung einen Satz, ein kleiner Hüpfer, von dem ihr doch ganz schwindelig wurde.
    » Ein Geist, der bei uns Trost sucht! « , rief Mrs Dee. » Wir heißen dich willkommen, o Besucher aus unermesslichen Gefilden! «
    Ein zustimmendes Gemurmel schloss sich dem Willkommensgruß an, und Sibyl betrachtete die Manifestation mit sehnsüchtigen Augen. Konnte es sein? Sie war sich nicht sicher. Die Hand – das musste sie doch wissen –, die sie als Baby gehalten hatte, die ihr als Kind die Wange gestreichelt hatte, um sie zu trösten. Was für eine Tochter wäre sie denn, wenn sie nicht die Hand ihrer Mutter gekannt hätte?
    » O Geist, wie sehnen wir uns danach, deine Hand zu ergreifen! Doch wir wissen, wenn wir den Kreis durchbrechen, könntest du verschwinden! Wie sehr uns deine Nähe quält! « Und dann fuhr Mrs Dee fort: » Für wen bist du hierhergekommen? Wie können wir dich erreichen? «
    Die weiße Hand fuhr mit den Fingern über eine unsichtbare Oberfläche und wackelte dabei hin und her, als streiche sie über Wellen. Die Teilnehmer schrien leise auf, weil jeder sich wohl insgeheim ausmalte, wie es war, in eisigem Wasser unterzugehen. Ganz langsam verformte sich die Hand und streckte den Zeigefinger aus, der nun in der Tischrunde kreiste und auf jeden einzelnen Teilnehmer zeigte.
    Sosehr sie sich auch bemühte, Sibyl konnte nicht erkennen, ob die Hand zu Helen gehörte. Für Eulah, deren Finger schmal, spitz zulaufend und gut manikürt gewesen waren, war sie zu alt. Die Hand drehte sich, als würde sie auf der Scheibe eines Grammophons liegen, wobei sie bei jedem Teilnehmer kurz verweilte, bevor sie weiterwanderte. Doch, es musste Helen sein. Helen war seit Sibyls Kindheit Spiritistin gewesen. Und gerade ihr würde es doch bestimmt gelingen, durch die Nebel und Ektoplasmen des Jenseits hindurchzufinden, um hierher zurückzukehren, in Mrs Dees Salon, in dem sie zu Lebzeiten so viele Abende damit verbracht hatte, mit der Geisterwelt zu kommunizieren. Helen musste wissen, dass Sibyl bei Mrs Dee nach ihr suchen würde. Was musste das Jenseits doch für ein gewaltiger Raum sein, wenn Helen so lange gebraucht hatte, um von dort zurückzukehren! Sibyl sehnte sich schrecklich danach, ihrer Mutter zu zeigen, was sie alles hatte tun müssen, nachdem sie sie verlassen hatte, und ihre Sehnsucht, von ihr getröstet zu werden, war schier übermächtig. Sibyls Einsamkeit lag auf ihr wie ein Gewicht, das sie niemals ablegen konnte, nicht einmal für einen Moment. Es musste Helens Hand sein. Sie musste es sein.
    Die Hand drehte weiter ihre Runden. Von Mann zu Frau. Von Frau zu Frau. Von Frau zu Mann. Und dann blieb sie stehen.
    Sie zeigte direkt auf Sibyl.
    Das Herz wummerte in ihrer Brust, sie verschluckte sich, und Tränen strömten ihr über die Nasenflügel, die Wangen. Die Hände, die sie auf der Tischplatte hielten, packten fester zu und drückten sie in ihren Stuhl zurück, während ein heftiges Zittern ihren Körper überkam. Die schwebende Hand zeigte immer noch auf sie, reglos.
    Sie war es. Endlich. Sibyls Mund öffnete und schloss sich, öffnete sich wieder. Sie rang verzweifelt um die richtigen Worte, denn sie wusste, dass ihr nur wenige Augenblicke blieben, bis ihre Chance wieder verronnen war.
    Hilflos in ihrer Ehrfurcht und ihrer Erleichterung schrie sie das einzige Wort hinaus, das sie aus dem Tumult der Gefühle, die in ihrem Herzen und ihrem Verstand tobten, herausklauben konnte: » Mama! «
    In diesem Moment versank der Raum in tiefer Finsternis. Sibyl blinzelte, und die Hand war verschwunden. Rund um den Tisch erhob sich Gemurmel. Dann wurde

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